Baltikum 2024
Atomek
Inhalt

Übersicht

Im August 2024 schauten meine Frau und ich uns 3 Wochen lang das Baltikum an. Hier schildere ich unsere Eindrücke. Mit unserem roten Bus fuhren wir auf der Fähre Kiel/Klaipeda. Der Bus hat zwei einfache Pritschen zum Schlafen, Fahrräder auf dem Dach und alles an Ausrüstung zum Campen. Er ist kein Wohnmobil, sondern ein simples Mehrzweckfahrzeug.

Vor der Reise haben wir lange geplant und den folgenden detaillierten Reiseplan herausgearbeitet:

Detaillierter Reiseplan
1.Erstmal losfahren
2.Dann mal sehen

Ein paar Ziele hatten wir uns natürlich schon überlegt:

Ich hatte nur Offline-Karten fürs Tablet vorbereitet und das Navi aktualisiert. Schon bald merkte ich, dass es ohne Karten nicht geht und besorgte mir in großen Städten genaue Straßenkarten der drei Länder.

Vn

Wenn du dieses Symbol siehst, klicke darauf, um den Ort auf der Karte zu finden.

Die Baltischen Länder

Baltikum
Litauen Lettland Estland

Als baltische Länder oder Baltikum bezeichnet man die drei Länder Litauen, Lettland und Estland. Sie haben Folgendes gemein

Ländervergleich Litauen Lettland Estland
Hauptstadt Vilnius
Vn
Riga
Rg
Tallin
Tn
Sprachen Litauisch
Ostbaltisch slawisch,
viele Dialekte,
im Osten Russisch und Polnisch
Lettische
Ostbaltisch slawisch,
Dialekte,
im Osten Russisch
Estnisch
finno-ugrische Sprache
im Osten Russisch
Fläche 65 Tkm² 65 Tkm² 45 Tkm²
Einwohner 2,9 Mio 1,9 Mio. 1,3 Mio.
BIP im Vergleich zur EU (100) 86 71 81

Erwartungen

Durch meine Vorfahren und durch die Familie meiner Frau habe ich ein gewisses Interesse an Osteuropa entwickelt und auch in der Literatur von Städten wie Memel, Tilsit, Tauroggen und Liebau gelesen. Daher war ich neugierig auf Landschaft und Kultur. So hatte ich von Memel (Klaipeda) und Litauen das Klischee von Wiesen, Flusslandschaften, Dörfern, Störchen, goldenem Licht und weißen Stränden. Um es vorwegzunehmen - ich habe das alles auch gefunden.

Namen wie Livland, Kurland, Pommern und Ostpreußen habe ich schon irgendwie gehört, kann sie aber erst einordnen, nachdem ich dort war.

Geschichte

Die drei baltischen Länder sind seit 1991 unabhängige Staaten und haben natürlich eine unterschiedliche Kultur und Geschichte. In einem Special habe ich mal meine vereinfachte Sicht aufgeschrieben, wobei ich gemeinsame Aspekte der jüngeren Geschichte beschreibe, die aber beim Verständnis helfen sollen.

Special: Geschichte

Die Geschichte der drei Länder wurden u.a. durch die Fremdherrschaften der Deutschen, Russen und Polen beeinflusst. Dänen und Schweden verschweige ich hier. Diese Einflüsse sind durch Besiedelung, Sprache und Bauwerke spürbar.

Die Links führen zu Wikipedia.

Deutsche Wirkung

Die hier dargestellten Flaggen, die verfassungsfeindliche Symbole darstellen, stehen im Zusammenhang mit geschichtlicher Aufklärung und keineswegs mit Verherrlichung.

Deutscher Orden
Deutscher Ordensstaat

Im Mittelalter gründete der Deutsche Orden im heutigen Polen und dem Baltikum seinen Deutschen Ordensstaat. Das waren Ritter, also Menschen die mit militärischer Macht ihre Herrschaft sicherten. Der Orden wurde in mehreren bedeutenden Schlachten geschlagen und im Laufe von ein paar Jahrhunderten bis ins 16te Jahrhundert zurückgedrängt. Für uns Deutsche läuft der Ordensstaat unter "ferner liefen". Er ist in unserem kollektiven Gedächtnis in irgendeiner unwichtigen Ecke. Für Polen und Balten ist er aber immernoch im Bewusstsein. Jeder Pole kennt das Datum der Schlacht von Tannenberg. Schließlich sind die hinterlassenen Bauwerke des Deutschen Ordens auch nicht auf dem Gebiet unseres heutigen Deutschlands. In Polen gibt es in Malbork eine Marienburg (siehe meinen Bericht von 2016) und in Lettland fanden wir ebenfalls eine Marienburg in Alūksne.

In Polen wurde ich als Deutscher oft auf den Deutschen Orden angesprochen. Die Polen verbinden in ihrem kollektiven Gedächtnis uns Deutsche mit dem Orden. Wir empfinden das überhaupt nicht so und ehrlich gesagt, hatte ich als 27jähriger nichteinmal von dem Orden gehört. Die Polen wissen eben nicht, dass wir Deutschen uns eigentlich erst seit dem Kaiserreich ab 1871 als Deutsche fühlen. Unser Nationalempfinden ist jünger und befangener als das der Polen. Daher hadern wir auch mit unserem Nationalismus und verstehen unter Patriotismus etwas Unterschiedliches in Ost und West und gegenüber den Polen.

Die sog. Baltendeutschen waren deutsche Einwanderer, die seit den Zeiten des Ordensstaates im Baltikum siedelten. Sie stellten eine Oberschicht als Großgrundbesitzer auf dem Lande und Städter bei der Stadtbildung, traten aber nicht als Besatzer auf. Sie empfanden sich selbst als Kurländer, Livländer oder was auch immer. Baltendeutsche stellten auch eine Bildungsschicht und spielten im Russischen Reich wichtige Rollen in hohen Positionen. So kommt es, dass viele historische Persönlichkeiten Russlands deutsche Namen trugen - sie waren als Balten Teil des Russischen Kaiserreiches.

Teile Litauens (Memel, Kurland) fielen mit der 3. Teilung Polens an Preußen und blieben bis zum Kaiserreich preussisch. Andere Teile fielen an Polen (auch Teile Lettlands) und diese Einflüsse sind heute noch im Osten Litauens und im Südosten Lettlands spürbar. Wir trafen mehrere Leute, die außer Lettisch auch Polnisch sprachen, was vom familiären Hintergrund kommt. In Vilnius hört man viel Polnisch, was natürlich auch an der Grenznähe zu Polen und dem Tourismus liegt. Auch in Polen trifft man Polen mit litauischen Wurzeln.

Reichskriegsflagge
Kriegsflagge des Kaiserreiches

Im Ersten Weltkrieg versuchte das Deutsche Reich eine Art Ostkolonialisierung bis hinauf nach Lettland (Kurland), indem es den seltsamen Staat "Ober Ost" gründete - einer Militärdiktatur.

Nachdem das Deutsche Reich Russland im Ersten Weltkrieg niederringen konnte und beide später zusammenbrachen, schafften es die baltischen Staaten unabhängig zu werden - teilweise sogar demokratisch. Diese demokratische Phase der 20er Jahre wurde aber nach ein paar Jahren von den eigenen Politikern autoritär beendet.

Emblem des III. Reiches
Emblem des III Reiches

Durch den Deutsch-Sowjetischen Nichtangriffspakt 1939 fielen die Baltischen Länder an Russland, das sie 1940 einverleibte. Nebenbei bemerkt - soetwas kommt heraus, wenn wir uns mit Russland über Interessensspären einigen. Hoffentlich bemerkt ihr meinen Seitenhieb auf aktuelle Rufen in Deutschland nach Friedensverhandlungen im Ukraine-Krieg.

Doch Stalin hatte nicht lange Freude an seiner Beute, denn 1941 besetzte die Wehrmacht die Länder im Rahmen des Krieges gegen Russland. Das III. Reich nutzte die Zeitspanne bis 1944, um die jüdischen Teile der Bevölkerung auszurotten. Das ist nicht übertrieben und es ist für mich eine starke und beschämende Erkenntnis gewesen, dass das jüdische Leben, das zur Geschichte des Baltikums gehört, mit der deutschen Besatzung plötzlich endet. Heute können wir Deutschen uns freuen, dass in Polen, dem Baltikum und anderen Ländern des Holocaust, wir uns überhaupt noch blicken lassen dürfen nach diesen Untaten. Ich führe den Umstand darauf zurück, dass wir uns mit diesem Teil der Geschichte öffentlich reflektierend befasst haben - zumindest in Westdeutschland. Es kann keine Wiedergutmachung für diese Handlungen geben, aber wir können uns wenigstens auf die Seite dieser Länder schlagen, um ihre Freiheit gegen die Russen zu schützen. Aus den selben Umständen würde ich die Unterstützung für die Ukraine begründen.

Wenn ich meine eigenen Klischees des Baltikums reflektiere, entdecke ich den Einfluss der Nazipropaganda aus den Darstellungen Kurländischer Fischer der Wochenschauen. Mit dieser Propaganda haben die Nazis versucht die Baltendeutschen auf ein höheres rassisches Niveau zu heben um der eigenen Bevölkerung die Osterweiterung zu begründen. Ähnliches versucht Putins Russland derzeit auch, wenn man dort versucht der eigenen Bevölkerung einzureden, das überall dort wo Russisch gesprochen wird, der Ruski Mir herrschen muss. Ich halte die Bedrohung des Baltikums durch Russland für real. Schaut euch das Hin und Her der Herrschaft durch Russland an, insbesondere die Erweiterung der "Interessenssphäre" Russlands nach dem Pakt mit Hitler. Die selben Begriffe hört man jetzt wieder aus Moskau und in Deutschland gibt es Deppen, die für soetwas auch noch Verständnis haben.

Russische Wirkung

Flagge Russland
Flagge des zaristischen Russlands

Russland stellte die prägende Fremdherrschaft über das Baltikum aus dem Osten. Das russische Kaiserreich expandierte im 18ten Jahrhundert in den baltischen Raum. Nach dem Zusammenbruch des Russischen Kaiserreiches und der Russischen Revolution von 1917 endete die russische Besatzung zunächst.

Es gibt in den ausgezeichneten Hornblower-Romanen von C.S. Forrester eine Szene, in der die Verteidigung Rigas gegen die heranrückenden Truppen Napoleans beschrieben wird. Im Roman wird die Stadt mit (fiktiver) Hilfe der englischen Seemacht verteidigt. Die Vehältnisse sind historisch kompliziert, auch weil die Ereignisse noch vor der Bildung von Nationalstaaten stattfanden und wir uns in die Allianzen und Machtverhältnisse von damals hineindenken müssen. Der Roman fängt jedoch die Stimmung im Riga des Jahres 1812 hervorragend ein. Er beschreibt die Spannungen zwischen Engländern, Franzosen, Schweden, Preussen und Russen im Brennpunkt Riga.

Sowjetische Flagge
Flagge der Sowjet-Union

Nach der russischen Besatzung 1940-1941 und der deutschen von 1941-1944 folgte die 'Befreiung' der baltischen Länder durch die Sowjetunion. Die Sowjets nannten die Baltischen Länder jeweils Sowjetrepubliken mit einer gewissen Autonomie, aber im Grunde war es eine Besatzung, die mit einer Russifizierung einher ging.


Russische Flagge
Flagge Russlands

Nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine 2014 erwacht die kollektive Erinnerung der Balten an die Besatzung und man fragt sich verstärkt, wie man mit den russischen Minderheiten umgehen soll. In diese Situation platzen wir herein als Touristen.

Überfahrt Kiel/Klaipeda - im Bauche des Stahlriesen

Start Magnify
Gleich sind wir dran
Hf

Von Kiel fahren wir mit der Fähre nach Klaipeda. Sie transportiert LKWs und Passagiere. Um 22:30 ist Abfahrt, wir sind 2 Stunden zuvor da. Das Beladen dauert lange, denn die Fahrzeuge müssen in der richtigen Reihenfolge ins Schiff. Die kleinsten Pkw kommen auf Deck 1 (ganz unten und niedrig). Wir landen auf Deck 2 neben den LKWs und unter der Wasserlinie. Die Überfahrt dauert bei 18,8 kn und 386 sm etwa 20 Stunden.

Start Magnify
Treppe in die Tiefe

Es pendeln zwei Fähren der Reederei DFDS zwischen Kiel und Klaipeda. Wir erwischen auf beiden Fahrten die Victoria Seaways mit 199 m Länge die kleinere und ältere der beiden. Dafür ist sie einen halben Knoten schneller - Ha!

Start Magnify
Blick von Deck 2 hinauf

Die unteren Fahrzeugdecks werden vor dem Auslaufen gesperrt. Wir haben eine Kabine auf Deck 6 und müssen durch die LKWs den Aufgang von Deck 2 finden. Auf engen Treppen quälen wir uns mit kleinem Gepäck hinauf. Die Wände der unteren Decks sind gedämmt, vermutlich um Kondenswasser zu vermeiden.

Start Magnify
Aufgang zu den Decks 6 und 7

Wir begeben uns in die Kabine, die auf der Hinfahrt ohne Fenster im Inneren liegt. Die Lüftung an der Decke rauscht laut, die beiden Betten sind übereinander und es gibt eine Duschkabine. Alles schön eng und gemütlich.

Natürlich renne ich erstmal los, das Außendeck zu finden, damit ich einen Blick auf die abendliche Kieler Förde werfen kann. Ich gehe hier jeden Morgen schwimmen und sehe den Anleger Bellevue mit der Badestelle.

Kabine
Unsere innenliegende Kabine

Wir gehen zum Abendbrot - es ist reichhaltig und gut. Wir gesellen uns zu anderen Fahrgästen und klönen. Wir treffen ein älteres Paar, das uns erzählt, wie minutiös sie ihre Reise geplant haben. Für mich ist das nichts - wo bleiben da die Überraschung und das Entdecken?

Start Magnify
Kiel nach Sonnenuntergang

In der Kabine ist es gemütlich, aber die Lüftung rauscht recht laut. Später finde ich heraus, wie ich sie herunterregeln kann. Das ganze Schiff bebt und summt und macht Geräusche. Es schaukelt kaum merklich. Das liebe ich und freue mich auf die Nachtruhe, während derer der riesige stählerne Schiffsleib sich durch die Ostsee schiebt. Das nächtliche Kiel verschwindet im Südosten und wir fahren durch die zunehmende Dunkelheit. Gegen 1:30 Bordzeit (es gilt die litauische Zeitzone an Bord, d.h. 1 Stunde weiter) schlafe ich ein.

Vor Sonnenaufgang Magnify
Vor Sonnenaufgang

Noch vor Sonnenaufgang wache ich auf und finde den Weg zum Hubschrauberdeck ganz oben. Das Schiff hat die westliche Ostsee bereits verlassen und ich sehe Rügen im Süden. Es ist 7:00, der Himmel ist wolkenlos und hinter dem östlichen Horizont wartet die Sonne auf ihren Auftritt.

Die Fahrt ist schön ruhig und wir fahren mit dem Wind. Es wird heiß auf dem Oberdeck. Man sieht kaum andere Schiffe und irgendwann tauchen Bohrplattformen in der Ostsee vor Polen auf.

Fenster Magnify
Frühstück mit Fensterplatz

Das Bordrestaurant ist bequem und wir begeben uns gegen 8:30 zum Frühstück. Man steht recht lange an, aber man hat ja auch nix zu tun. Die Passagiere - es mögen ein paar hundert sein, bestehen aus zwei Rassen:

Start

Die LKW-Fahrer erkennt man an Form und Kleidung. Untersetzte gemütliche Kerle in Trainingshosen und Badelatschen. Sie genießen die Untätigkeit, finden sich in kleinen Gruppen zusammen und rauchen oder dösen. Die drei Mahlzeiten sind die Tageshöhepunkte und man hat Zeit, die Familie zu Hause anzurufen. Ich nehme an, die meisten Fahrer sind Osteuropäer, manche haben asiatische Züge. Meistens hört man Russisch oder Litauisch. Ich kann Litauisch gar nicht von Lettisch unterscheiden. Stelle mit vor, es ist etwas ähnlicher dem Polnischen, das ich verstehe.

Überhaupt reichen meine Sprachkenntnisse nicht sehr weit. Ich kann allerdings Russisch von Polnisch unterscheiden und kann die anderen slawischen Sprachen so weit erkennen, wie sie vom Polnischen weg sind. Oft verstehe ich Fragmente der "kleinen" slawischen Sprachen, bin aber weit davon entfernt sie zu sprechen. Meistens kommt man mit Englisch gut weiter und die Einheimischen, die mit Touristen zu tun haben, kennen die wichtigsten Begriffe ihres Metiers auf Russisch, Polnisch, Englisch und Deutsch. Es ist ein großes Sprachwirrwarr, das in Trakai einen Höhepunkt erfährt. Eigentlich bringt mir genau das auch Spaß.

Rettungsboot Magnify
Eines der beiden Rettungsboote

Ich genieße die Langeweile und schaue mir die Rettungsboote an. Ich entdecke 2 davon mit je 150 Personen Fassungsvermögen. Die Fähre kann 515 Passagiere transportieren. Und Besatzung. Hm. Es gibt ja noch Rettungsinseln. Soll ich vielleicht vorsichtshalber im Rettungsboot die Überfahrt genießen? Nee Spaß - wird schon nix passieren. Die Fähre ist ein Hinterlader und hat keine Bugklappe, wie sie bei der Estonia zur Katastrophe geführt hat. Ich erinnere mich an die Grafik der Estonia, wo man die Leichen im Schiffsrumpf der Unglücksfähre fand - nämlich an den Enden der Gänge, die als Sackgasse ausgeführt wurden. Wenn ich auf der Victoria Seaways durch die Gänge irre, wundere ich mich, dass nicht jeder Gang am Ende wenigstens einen Notausgang nach draußen hat. Wenn die Menschen panisch durch die Gänge drängen, rennen sie vermutlich nicht den Pfeilen nach, sondern eher bergauf, selbst wenn sich dort eine Sackgasse befindet.

Passagiere Magnify
Passagiere

Die Touristen sind bunt gemischt und in bequemer und billiger Freizeitkleidung. Man hat eben nicht so viele Kleidung dabei, weil das Meiste im Auto ist. Es gibt auch Passagiere, die keine Kabine gebucht haben. Sie dösen in einem Gruppenraum.

Kurische Nehrung Magnify
Klaipeda und die Kurische Nehrung - Hafenbetrieb und ein endloser weißer Strand

Wir vertrödeln den Tag, meistens auf dem Oberdeck. Ich denke, wir sollten uns nächstes Mal Stühle fürs Deck mitnehmen. Wir müssen uns eincremen, denn es ist schön heiß und sonnig. Das Buffet zum Mittagsessen ist reichhaltig und abwechslungsreich. Mit schmecken die Heringsstücke besonders. Der Kaffee ist der beste auf der ganzen Reise.

Klaipeda Magnify
Klaipeda - Industriehafen

Gegen 18:00 kommt Klaipeda in Sicht - spannend. Südlich der Stadt mit viel Industrie und einem relativ großen Hafen, erstreckt sich die Kurische Nehrung. Nehrungen sind von Dünen und Kiefernwäldern langgestreckte, der Küste vorgelagerte Halbinseln. Diese hier ist berühmt und wir wollen sie unbedingt besuchen. An Backbord zieht der Industriehafen Klaipedas an uns vorbei mit Öltanks, Massengutpiers, Containerterminals, Werften, Anlegebrücken, einem Riesenrad, historischen Gebäuden - guter Ausblick von hier oben.

Mellum Magnify
Klaipeda - Kasko der Mellum

Vor einer großen Werfthalle auf einem Ponton fällt mir der Neubau eines Spezialschiffes in den typischen Farben deutscher Küstenwachschiffe auf. Am Bug steht "Mellum". Ich erinnere mich, dass mir ein Besatzungsmitglied der Scharhörn auf der Kieler Woche erzählt hatte, dass es bald einen Ersatz für die alte Scharhörn und die Neuwerk gibt. Hier sehe ich wohl einen der Nachfolger! Tatsächlich entsteht hier, wie ich später erfahre, der sogenannte "Kasko" eines neuen Küstenwachschiffes. Der Kasko ist die Schiffshülle, die hier für die beauftragten Werft Abeking&Rasmussen entsteht. Heute morgen am 2.9. sah ich zufällig auf dem Nord-Ostsee-Kanal diese Schiffshülle, wie sie von Schleppern (da ohne Eigenantrieb) zur Bauwerft zur technischen Ausstattung gezogen wurde.

Kurisches Haff Magnify
Klaipeda - Kurisches Haff

Das Schiff legt rückwärts an, um über seine Rampe entladen zu werden. Erst dann werden die Niedergänge zu den Fahrzeugdecks geöffnet, sodass wir noch Zeit haben erste Blicke auf Klaipeda und die Nehrung zu werfen. Nach Süden öffnet sich der Blick ins Haff. Das Haff ist die Wasserfläche zwischen Nehrung und Festland. Es enthält Brackwasser und das ist trüber als die Ostsee. Das Haff wird von der Memel gespeist. Der deutsche Name der Stadt Klaipeda ist Memel, obwohl sie gar nicht an diesem Fluss liegt.

Doch jetzt müssen wir zu unserem Auto und versuchen den richtigen Niedergang zu finden. Wir verpassen ihn im Strom der Menschen und stehen plötzlich mit unserem Tagesgepäck am Ausgang des Schiffes für Fußgänger - Panik! Und wieder zurück in den Schiffsbauch. Schließlich erreichen wir noch rechtzeitig unseren Bus, rangieren heraus und die Reifen trampeln über die stählerne Rampe in die Freiheit.

Litauen - Land der Störche und Wiesen

Campingplatz Karklė
Campingplatz Karklė

Als wir das Land zum ersten Mal befahren, fällt es mir sofort auf: das goldene Licht! Das Licht ist genauso, wie ich es mir immer von diesen Ländern vorgestellt habe - irgendwie golden. Das mag Zufall sein, weil die Sonne schon tief steht und der Himmel blau ist. Aber es ist ein starker, unvergesslicher Eindruck, der entsteht, wenn ein Land so schön ist wie in der Vorstellung und man gezweifelt hat, ob es wirklich so ist. Das habe ich auch erlebt, als ich das erste Mal in Schweden war - es sah wirklich genauso aus wie in Bullerbü. Oder meine nächtliche Bahnfahrt in die winterliche Schweiz bei Nacht als Jugendlicher - wie in einer Modelleisenbahnanlage.

Im Zelt
Gemütlich im Zelt, mit dem Fuß als Selfiestick, deshalb grinsen wir so.

Da es schon spät ist und wir eine Schlafstätte brauchen, fahren wir nördlich von Klaipeda auf einen Campingplatz an der Küste. Um 21:00 kommen wir an in Karklė und steuern den erstbesten Campingplatz an. Er ist mit 25 Euro nicht gerade günstig, aber er ist völlig ok, wie eigentlich alle Campingplätze, die wir aufsuchen. Er ist nicht direkt am Meer, aber wir wollen eh nicht den Tag hier zubringen.

Strand in Karklė Magnify
Strand in Karklė

Am 4.8. gehen wir in Karklė erstmal vom Campingplatz über die Straße und durch den Küstenwald ans Meer und schwimmen. Ein Naturstrand - man kann gut schwimmen, es ist warm - aber weder Wasser noch Strand können meine Lieblingsstrände an der Kieler Förde toppen. Wir sind eben verwöhnt.

Special: Camping in den baltischen Ländern

Camping geht recht gut, die Preise sind moderat. Wir zahlen zwischen 10 und 30 Euro. Wenn ich im Auto schlafe, wird es als Camper berechnet und teurer als das Zelt. Also schlafen wir im Zweifel im Zelt - da ist die Luft eh besser.

Die Campingplätze waren alle gut geführt, einfache Sanitäranlagen, aber sauber. Nicht alle sind schön gelegen, aber wir haben, bis auf den Campingplatz Rannakodu, den Platz nur zur Übernachtung genutzt. Morgens Schwimmen war immer möglich, auch in Karklė, obwohl der nicht direkt am Wasser lag. Kein Campingplatz war überfüllt - eher waren sie im August (also noch in der Saison) recht frei. Vorbuchen lohnt also nicht.

In allen baltischen Ländern ist das Wildcampen wie in Schweden zulässig. Man findet spontan auch sehr schöne Plätze. Wir haben oft wild gecampt, aber genauso oft einen Campingplatz aufgesucht. Auch im Hotel haben wir übernachtet, wenn wir in einer Stadt 2 oder 3 Tage bleiben wollten.

In Naturschutzgebieten ist Wildzelten ist nicht erlaubt. Aber es gibt dort bezeichnete Stellen, wo man kostenlos campen kann. Die Informationszentren informieren vor Ort und es man kriegt da auch gute Karten.

Kurische Nehrung - endloser weißer Strand

Kurische Nehrung Magnify
Kurische Nehrung
KN

Unsere Ziele heute sind die Kurische Nehrung und die Stadt Klaipeda. Es ist schönes Wetter und wird bestimmt sommerlich warm. Wir planen, mit dem Auto bei Klaipeda zu parken, die Fahrräder abzuladen und damit zur Nehrung mit einer der kleinen Fähren überzusetzen. Wir parken nördlich und fahren in die Stadt hinein durch einen Park an den riesigen Ölpiers vorbei. Durch die Altstadt, den Hafenbereich und die Vorstadt fahren wir zu den Autofähren, die nicht weit vom DFDS-Terminal zur Nehrung pendeln. Sie fahren oft und die Fahrt pro Person und Rad hin und zurück kostet 1,70 €. Für die Rückfahrt kann man auch die andere Fähre weiter nördlich nehmen.

Wald hinter dem Strandwall Magnify
Wald hinter dem Strandwall

Auf der Straße, die die Nehrung entlang führt, fahren wir über den ca. 50 m hohen Sandrücken der Nehrung. Der Radweg ist hervorragend, neu und die ganze Nehrung perfekt fürs Rad gemacht. Viele Leute fahren auf der Fähre mit dem Rad zum Strand. Hinter der Primärdüne, die vielleicht 10 m hoch ist, führt ein geschützter, breiter Radweg wie eine Autobahn die Nehrung entlang. Ich weiß nicht ob er die ganzen 50km bis an die Grenze zur Oblast Kaliningrad reicht. Wir fahren nur ein paar Kilometer, bis die Menge sich verlaufen hat. Es ist hier nirgendwo überlaufen. Die Dünen und der weite Strand sind herrlich. Es ist alles sauber, die Leute lassen wirklich keinen Müll liegen und Hunde sind alle an der Leine. Es gibt auch Toilettenhäuschen und kleine Kioske hinter der Düne, wo man z.B. Wasser oder Eis kaufen kann. Perfekt.

Das Strandleben schildere ich hier nicht, weil es so wie überall ist - sich in der Sonne wälzen, was lesen, zwischendurch sich in die Wellen stürzen. Da die Küste sich nach Westen öffnet und wir meistens Westwind haben, gibt es wohl oft Brandung. Ich habe Respekt vor Unterströmungen, die mich herausziehen und gehe nicht zu weit raus. Im belebtesten Teil der Küste, nahe Klaipeda gibt es Rettungsschwimmer in Wachhäuschen.

Klaipeda - wimmelnder Hafen und Tor zu Europa

Klaipeda
Altstadt von Klaipeda an der Danė
Kp

Auf dem Rückweg fahren wir uns Klaipeda anschauen. Sie ist nach der Hauptstadt Vilnius und nach Kaunas die drittgrößte Großstadt Lettlands mit 167.000 Einwohnern. Es gibt viel Industrie, große Straßen, sogar Autobahnen, Vorstädte aus der Zeit der Sowjetunion mit großen Wohnblocks - meistens renoviert. Der Stadtkern ist aber schön und lebendig. Das Flüsschen Danė fließt durch die Stadt und man kann in der Altstadt bummeln und Kaffee trinken, was wir natürlich machen.

Nachts

Wir fahren mit dem Rad zurück zum Auto und fahren noch ein paar Kilometer raus zum Zeltplatz, wo wir es uns im Zelt gemütlich machen, und noch etwas lesen und schreiben. Im Zelt nutzen wir neue Luftmatratzen oder die Polster aus dem Auto und schlafen in unserem Bettzeug von Zuhause. Man muss doch gemütlich liegen!

Memel - lieblicher Fluss im Grünen

Flusslandschaft
Campingplatz Karklė
Karklė-Kaffee in der Morgensonne

Früh um 7:00 packen wir ein, damit wir vor einem Regengebiet über Kaliningrad wegkommen, dessen Nordausläufer uns bedrohen. Wir frühstücken natürlich gemütlich mit Kaffee aus der Maschinka - meinem uralten Benzinkocher. Ich esse ein Müsli mit Bananen und Pfirsich und Bogusia isst gar nichts, weil sie fasten will. Wir fahren durch Klaipeda zu einem Einkaufszentrum, wo wir uns warme Decken kaufen, weil es Nachts doch recht kühl war.

Partisanen Magnify
Kommandoposten der Partisanen gegen die Sowjets
Pa

Wir verlassen Klaipeda auf der A1 Richtung Vilnius, verlassen diese Autobahn aber Richtung Tauragė, weil wir an die Memel wollen. Vielleicht kann man dort zelten. Wir sehen schöne litauische Landschaft mit satten Wiesen, Gebüschen und Mischwäldern. Oft sind Störche zu sehen, die sich bereits zu sammeln zu scheinen. Es sind noch mehr als in Polen. In einem Wald sehe ich ein Schild mit einem Hinweis auf irgendwas mit Partisanen. Wir fahren ein paar Kilometer durch den Wald auf einer guten Piste und landen an einem Ort, wo eine Partisanenunterkunft im Wald nachgebaut wurde. Es war eine Kommandozentrale der litauischen Partisanen, die nach der Besetzung durch die Sowjets noch bis 1953 Widerstand leisteten. Die Litauer pflegen die Erinnerung an diesen Aspekt der Geschichte offensichtlich.

 Mittag
Kochen wie die Partisanen

In der Hütte sind Betten und ich denke an die Ukrainer, die im Krieg gegen die Russen zurzeit in ähnlichen Behausungen ausharren müssen. Wir machen bei der Gelegenheit Pause und bauen im Wald unsere kleine Küche auf und ich esse lecker Suppe. Danach wieder Kaffee mit Milch aus der Maschinka.

Tr

Wir fahren weiter nach Tauragė (Tauroggen). Die Stadt ist an einem tiefen Tal des gewundenen Flusses Jūra gelegen. Man hat darauf bei der 3-Faltigkeitskirche einen schönen Ausblick. Die Stadt hat eine interessante Geschichte, die mir beim Aufenthalt leider nicht bewusst ist. Nur der Name Tauroggen ist mir bekannt. Bei der besagten Kirche ist eine Ausstellung von Fotos der Partisanen aus der Zeit der sowjetischen Besatzung. Es sind viele junge Menschen - auch junge Frauen - in Uniformen zu sehen, die mit allem Möglichen bewaffnet sind. Sie erhielten aus dem Westen wohl etwas Unterstützung. Die Gesichter und Schicksale dieser Menschen berühren mich. Wie schrecklich muss die Besatzung gewesen sein, dass sie die Härten eines solchen Lebens auf sich nahmen. Ich denke auch an die Ukrainer, denen ich dieses Schicksal nicht wünsche. Die Menschen dort kennen die Russen und wollen lieber jetzt kämpfend sterben als eine solche Besatzung erleben.

Weißstörche Magnify
Weißstörche

Weiter gehts durch die Landschaft und wir sehen viele Dörfer mit verfallenden Holzhäusern. In den baltischen Ländern gibt es überall Holzhäuser, die teilweise ärmlich gedämmt und meistens mit Eternit Wellplatten gedeckt sind. Manche haben als Außenwand eine Art Teerpappe mit Dämmmaterial an der Innenseite. Manches Dach hatte ursprünglich Holzschindeln, die einfach mit dem grauen Eternitzeugs überdeckt wurden.

Einmal zählen wir durch Fernglas 28 Weißstörche, die hinter einem Trecker stolzieren und aufgescheuchte Nahrung suchen. Ich halte das Handy ans Fernglasokular um das Bild zu vergrößern. Fummelige Sache, aber es funktioniert.

Memel Magnify
Die Memel vor Jurbarkas
Schreiben
Tagebuch
Mm

Die Memel sehen wir zum ersten Mal in Jurbarkas. Sie ist überraschend groß, etwa so wie die Elbe vor Hamburg. Nach Jurbarkas ist das Memeltal sehr schön und ich bin begeistert. Wir halten ein paar mal an und besteigen alte Festungshügel an der Böschung des Tales. Gegen 16:00 finden wir einen schönen Platz direkt am Fluss und beschließen zu übernachten. Ich sehe viele Vögel - Silberreiher, Kormorane, einen Maskenwürger, Gänse, Mehlschwalben. Gegen 19:00 höre ich ein tiefes Brummen, das auf dem Fluss näherkommt. Unglaublich - es ist ein sowjetisches Tragflügelboot, das vorbei "fliegt". Ich google dass es eine "Raketa" ist, die in Kaunas liegt und privat wieder flott gemacht wurde.

Memel Magnify
Memel vor dem Sonnenaufgang

Die Raketa stammt aus einer Zeit, als die Sowjets unter Stalin die letzten Reste der kommunistischen Utopie lebten und solche Wunder noch bauten. Ich liebe diese sowjetischen Relikte. Aber die Tragflügelboote hatten natürlich auch den praktischen Nutzen, die großen russischen Ströme als Verkehrsader zu erschließen. Leider habe ich den Fotoapparat nicht zur Hand gehabt, aber glaubt mir - es war ein im wahrsten Sinne des Wortes ein erhebendes Erlebnis. Außerdem kommen später ein Schubverband und noch ein Schlepper vorbei. Bis auf die moderne Barge alles noch sowjetisches Material.

Memel Magnify
Blick von einem Festungshügel

Um 5:00 morgens ist vor dem Sonnenaufgang schöner Nebel auf dem Fluss. Gegen 7:00 stehen wir auf und frühstücken. Es wird ein heißer Tag. Wir fahren weiter durchs Tal der Memel. Es gibt hier einige Hügel, auf denen früher Festungen standen. Man kann sie erklettern und hat einen schönen Blick. "Burg" heißt "Pili" auf Litauisch. Sonst erkenne ich keine Worte auf den Schildern. Ach ja - "seni" sieht man auch oft, steht für "alt".

Memelfähre Magnify
Fähre bei Vilkija
Fährantrieb Magnify
Geschwenkter Außenborder
Vk

In Vilkija gibt es eine Fähre und wir beschließen an dem schönen Nachmittag einen Kaffee am Kiosk der Fährstelle zu trinken. Das Wetter ist richtig schön geworden und warm. Wir schauen der Fähre zu und bekommen Lust einmal mitzufahren. Es kostet 1 Euro. Sie wird auf der Stromluvseite an einem Kabel geführt und hat auf der Leeseite eine Art Aussenborder, der am Ende der Fahrt um 160° oder so geschwenkt wird. Auf der anderen Seite ist nur Wildnis und ich überlege dort einfach zu zelten. Wir fahren wieder zurück und nehmen dieses Mal das Auto mit - für 8€.

Schmetterlinge Magnify
Schmetterlinge am Fluss
Vilkija Magnify
Vilkija an der Memel

Auf der anderen Seite lassen wir uns am Ufer nieder, ein paar hundert Meter von der Fähre. Der Nachmittag und der Platz sind sooo schön und die Sonne brennt heiß. So komme ich auf die Idee ein Vordach zu improvisieren, indem ich eine grüne 2x3 m-Plane aus dem Baumarkt vom Dachgepäckträger abspanne. Als Stangen verwende ich die Zeltstangen. Später suche ich mir passende Äste aus der Natur - das geht noch besser. Wir verbringen den Nachmittag mit Sitzen und Liegen am Fluss und mit Lesen. Direkt am Ufer sammeln sich Dutzende von Schmetterlingen an einer Stelle, wo es vielleicht Mineralien gibt, die sie aufnehmen.

Campingbus
Campingbus

Das Vordach bewährt sich gegen Niederschlag und Sonne. Ich würde zwar auch ohne den ganzen Krempel auskommen, aber man muss der lieben Frau ein Minimum an Komfort bieten. Die Befestigung der Fahrräder auf dem Dach mit Spanngurten bewährt sich nicht - sie klappern herum.

Flusslandschaft bei Vilkija Magnify
Flusslandschaft bei Vilkija

Später finde ich eine bessere Lösung. Meine Seemannsknoten bewähren sich. Der Schotstek für die Spannleinen und der Kreuzknoten für die Befestigungen - so langsam optimiert sich alles im Laufe der Reise. Ich finde, unsere Kleinen sollten Schotstek, Kreuzknoten, Palstek und Webleinstek bereits in der Schule lernen. Sowas braucht man im Leben häufiger als Kurvendiskussion. Ich mache eine kleine Radtour durch die Wildnis.

Kirche Magnify
Kirche des hlg. Johannes

Die Memel ist schön, aber wir wollen mehr sehen. Also fahren wir weiter, diesmal auf der südlichen Seite. Bevor wir nach Kaunas, der mit 315.000 Menschen zweitgrößten Stadt Litauens kommen, plane ich den Stadtbesuch. Wir halten an einer Sehenswürdigkeit an der Memel, einem Kirchenschiff. Es ist ein schön renovierter Rest einer alten Kirche ohne Turm. Man kann hinein und drumherum spazieren. Hier war früher ein Dorf mit Holzhäusern, welches bei großen Fluten der Memel überschwemmt und irgendwann aufgegeben wurde. Wenn wir alte Gebäude sehen, sind es bei uns fast immer Steinbauten. Daher haben wir den Eindruck, früher gab es viele schöne Steinhäuser. Doch ich glaube, das ist eine Trugschluss. Auch bei uns waren früher, zumindest in den Gegenden mit Wald, die meisten Häuser aus Holz und hielten i.d.R. nicht lange, vielleicht 80 Jahre. Die Steinbauten waren stets Besonderheiten die von reichen Leuten, oder aus militärischen Gründen gebaut worden waren. Hier im Baltikum merkt man den kürzeren zeitlichen Abstand zur alten Zeit einfach an der Zahl der vielen Holzhäuser in allen Stadien des Niederganges. Während bei uns das Kaiserreich ab 1871 mit dem wachsenden Wohlstand des Bauern- und Bürgertums die Holzhäuser verschwanden, brachten der Zar bzw. später die Sowjets vermutlich keinen vergleichbaren Aufschwung mit sich.

Reifenpanne
Reifenpanne - Ersatzschlauch immer dabei, 15 min

Am ausgebauten Radweg an der Memel treffe ich einen Radfahrer. Es ist Robert aus Polen. Wir unterhalten uns und er erzählt mir, das er von Polen aus hier unterwegs ist und an der Memel nach Kaunas fährt. Die Region südlich von hier bildet zwischen der Oblast Kaliningrad im Westen und Weißrussland im Osten den Übergang zur Masurischen Seenplatte. Ich wollte eigentlich schon vor ein paar Jahren von der polnischen Seite aus diese Gegend mir einmal ansehen, aber damals war der Sommer zu heiß für lange Touren. Auch diesmal schaffen wir es nicht, weil wir von Kaunas nach Norden wollen.

Kaunas

Kaunas Magnify
Kaunas von der Aussichtsplattform Aleksotas
Kn

Am besten parke ich etwas außerhalb und wir fahren mit dem Rad ins Zentrum. Also schaue ich auf Google-Maps und entdecke ein Wohngebiet, südlich von Altstadt und Memel. Nicht weit davon ist auch eine Brücke zu sehen. Als wir nach Kaunas kommen entdecke ich das Problem - wir sind auf einer Hochebene über der Stadt und man kommt nicht einfach hinunter zur Memel und über die Brücke. Aber Glück im Unglück - es gibt eine Möglichkeit - die Standseilbahn Aleksotas. Sie liegt fast dort, wo ich parke.

Standseilbahn
Standseilbahn von Aleksotas
Ufer der Memel in Kaunas Magnify
Ufer der Memel in Kaunas

Die Standseilbahn besteht aus zwei Wagons auf Gleisen, die an einem umlaufenden Stahlseil den Berg hinaufgezogen, bzw. hinabgelassen werden. Das Prinzip erinnert mich an den Elbing-Kanal, den ich 2016 besucht und beschrieben habe. Auch dort werden zwei Wagons an einem gemeinsamen Stahlseil zwangsgeführt. Ich sehe, dass die Bahn um 12:00 Mittagspause hat, es ist 11:45, also kein Problem. Denkste. Eines der beiden Fahrräder, die ich von meinem Dach wuchte, hat einen Platten vorne. Ich beeile mich das zu reparieren, schaffe es aber nicht mehr bis 12:00. Also müssen wir unsere Räder die Treppe hinunter geleiten. Das klingt schwieriger, als es ist, denn der Abstieg nahe der Bahn ist schön schattig und es gibt eine Spur fürs Rad. Die Bahn beschreibe ich weiter unten, denn jetzt wollen wir Kaunas entdecken.

Knips-und-Wech ist unsere Chinesenmethode mit der knappen Zeit umzugehen
Moderner Stadtteil an der Neris Magnify
Moderner Stadtteil an der Neris
Rathaus Kaunas Magnify
Rathaus Kaunas

Die Brücke über der Memel hat den stalinistischen Charme. Sie ist eine Hubbrücke, was ich aber erst beim Schreiben dieses Berichtes entdecke. Auf der anderen Seite ist die schöne Altstadt, typisch für die großen und kleinen Städte des Baltikums. Außer Tallin besuchen wir sie alle, allerdings meistens mit der Methode "Knips und wech", wie die Chinesen. Es ist einfach alles zu viel und wir beschränken uns bewusst auf Weniges. Eigentlich braucht man Jahre, um sich alle Kirchen, Festungen, Museen, Brücken, Häfen und historischen Orte des Baltikums anzusehen. Wir haben nur drei Wochen, und man muss auch mal die Seele baumeln lassen. Nun ja, an der Memel baumelte sie ja bereits und wir sind fit für Stadt-Trubel.


Memel
Burg Kaunas Magnify
Burg Kaunas

Wir umrunden die Altstadt zunächst nach Südwesten zum Zusammenfluss von Neris und Memel. Das ist ein schöner Platz mit einem tollen Wohnviertel mit moderner Architektur. Nicht weit davon liegt die Festung Kauno Pilis und dahinter gehts in die Altstadt. Auf einem Platz gibt es einen kleinen Stahlbogen, wo Wasser zerstäubt wird und einen Nebel bildet.

Abkühlung
Abkühlung

Das ist zur Erfrischung an heißen Tagen und heute ist so einer. Es gibt hier viele Leute, die wie wir bummeln, ich höre auch Deutsch. Es ist aber keineswegs überlaufen. Die Stadt wirkt "echt". Städte wie die Altstadt von Warschau oder Prag wirken dagegen nicht echt, sondern eher wie Museen ohne Bewohner. Wir bummeln durch die Stadt und suchen uns ein Restaurant, um etwas zu essen. Damit hatten wir auf der ganzen Reise keine Probleme.

Magnify "An diesem Ort, am 11. Mai 2014, passierte nichts Besonderes."

Das Essen ist gut und günstig und Kaffee gibts auch überall. Und Kwass. Daran gewöhne ich mich langsam, doch später mehr dazu. Bei dem Lokal gibt es eine Gedenkstädte, wo in drei Sprachen an den 11. Mai 2014 erinnert wird.

Uralter Kanaldeckel Magnify
Uralter Kanaldeckel

In vielen Lokalitäten im Baltikum scheint es üblich, zur Bestellung zunächst an die Kasse zu gehen, bevor man sich hinsetzt. Zur Aufnahme der Bestellung läuft keiner herum, aber zum Abräumen des Geschirrs schon.

Nach dem Essen kreuzen wir noch durch die Altstadt. Dieser Kanaldeckel fällt mir auf. Er ist unendlich alt und alles ist krumm und schief. Sehr hübsch. Solange man nicht drüberfahren muss.

Untere Station
Untere Station der Standseilbahn

Aber wir müssen weiter. So fahren wir wieder über die Memelbrücke zur Standseilbahn von Aleksotas. Sie ist 1935 während der Unabhängigkeit Litauens gebaut worden. Zu dieser Zeit war Kaunas die "provisorische" Hauptstadt Litauens, weil der Raum Vilnius zu Polen gehörte. Zweck der Bahn war es den Stadtteil Aleksotas an den Stadtkern anzubinden - er liegt ja einige 10 Meter oberhalb wie auf einer Hochebene. Wir sind die einzigen Passagiere und ich quetsche die Räder in den schönen alten Wagon. Er scheint original und gut restauriert.

Fahrt mit er Standseilbahn

Es gibt in jedem der beiden Wagons einen Schaffner. Los geht die rumpelige Fahrt. In der Mitte begegnen sich die beiden Wagons an der Ausweichstelle der Gleise. Die Bahn hat eine Oberleitung und ich frage mich wofür, denn eigentlich ist es besser den Antrieb stationär in einer der Stationen zu platzieren. Die Steuerung erfolgt von der oberen Station. Dort sitzt ein "Fahrer", der in einer Kabine des Häuschens sitzt und mit einem Stellrad hektisch steuert. Hmm, was steuert der denn bei einer Schienenbahn?

Instrumente Magnify
Instrumente im Fahrerstand der oberen Station

Als wir oben angekommen sind und weiterfahren wollen, fällt mir auf, dass ich unseren Wasserkanister auffüllen müsste. Ich frage den Schaffner, wo es Wasser gibt und er rät mir den Fahrer in der Station zu fragen. Ich frage ihn und zeigt mir im Häuschen den Wasserhahn. Dabei sehe ich seinen Arbeitsplatz und ich frage ihn, wie das System funktioniert. Ich schaue ihm zu, wie er die Bahn steuert. Indem er sein Stellrad kontrolliert, steuert er den Strom, sodass die Geschwindigkeit der Bahn konstant bleibt. Die Instrumente von links nach rechts - 1,5 m/s bei etwa 85 Ampere und konstanten 400 V. Das entspricht einer Scheinleistung von etwa 34 kW (45 PS). Ich weiß nicht, ob die Anlage mit Gleich- oder Wechselstrom funktioniert - wahrscheinlich mit dem Stadtnetz, also Wechselstrom. "Išjungta" heißt "deaktiviert", "Ijungta" heißt "aktiviert" und "Kelio Apšvietimas" ist "Beleuchtung".

Antrieb Magnify
Antrieb im Keller der Station

Wir gehen in den Keller und ich schaue mir den Antrieb an. Es ist alles original und gut erhalten. Die Anlage ist 1935 von einer Schweizer Firma gebaut worden. Die Instrumente sind von AEG und Siemens&Halske. Ein Elektromotor treibt ein Ritzel an, das das große Zahnrad mit dem Seilrad antreibt. Der schmale Riemen treibt das Tachometer im Fahrerstand an. Die Oberleitung der Bahn wird nur für die Beleuchtung benötigt. Wenn morgens die Arbeiter in die Stadt fuhren und nur die Nachtschicht nach oben fuhr, musste das System vielleicht mehr gebremst werden, weil der schwere obere Wagon den leichten unteren antrieb. Abends war es umgekehrt und der Motor musste die Arbeiterschaft auf den Berg schaffen.

Altes Haus Magnify
Altes Haus in Kaunas

Wir fahren aus der Vorstadt mit der Universität und dem Flugplatz heraus und fotografieren ein altes Haus an einer Straßenkreuzung. Solche Häuser sieht man noch viel in Litauen. Sie zeugen von der uralten Bauweise mit Holz und primitiver Dämmung. Dagegen waren die Wohnblöcke des Kommunismus mit Fernheizung sicher ein Fortschritt. Aber auch diese wirken recht hässlich und unfertig. Sie sind nur aus weißen, unverputzten Kalksandsteinen gemauert, mit sichtbarem Fenstersturz, wie man es bei uns nur am Rohbau sieht.

Trakai

Memel Magnify
Mäandernde Memel bei Birštonas
Aussichtsturm
Aussichtsturm
Tk

Unser Ziel ist Trakai, eine Stadt südwestlich der Hauptstadt Vilnius. Trakai ist ein Touristenspot, umgeben von Seen und Wald, mit einer schönen Burg und vielen Freizeitmöglichkeiten. Sowas schreckt mich sonst ab, aber hier ist es ja eigentlich nirgendwo richtig überlaufen. Wird schon nicht so schlimm sein.

Um die Fahrräder auf dem Dach besser befestigen zu können, gehe ich in einen Baumarkt und kaufe 8 mm-Leinen. An der Kasse passiert die folgende kleine Szene: Die Kassiererin sagt dem Mann vor mir die Summe - natürlich alles auf Lettisch und ich verstehe nichts. Der Mann schaut den Mann hinter mir an und sagt etwas, darauf gibt der ihm eine Karte, mit der der erste Mann zahlt. So geht das also! Als ich dran bin, sagt die Kassiererin etwas, was ich natürlich nicht verstehe. Ich schaue den Mann hinter mir an und es klappt - er gibt mir die Karte. Die Kassiererin nimmt die Karte, aber ich muss auch selber was bezahlen. Das war bestimmt eine Rabattkarte und der Typ vor mir hat gefragt, ob jemand in der Schlange eine Rabattkarte hat.

Auf dem Weg sehen wir bei Birštonas einen sehr hohen modernen Aussichtsturm. Da müssen wir natürlich rauf. Er ist 51 m hoch und man kann die mäandernde Memel bewundern.

Special: Äpfel

Uns fällt in Litauen und Lettland auf, dass an den Straßenrändern oft Apfelbäume wachsen. Sie tragen kleine Früchte, die aber gut schmecken. Viele sind jetzt im August reif. Manchmal wachsen auch Pflaumen.

Blaubeeren und Preiselbeeren finden wir in den Wäldern auch, aber nicht so viel. Vielleicht ist der Sommer auch schon zu weit.

Akmena Magnify
See Akmena bei Trakai
Vor Trakai
Weg nach Trakai

Der weitere Weg ist langweilig. Langweilige Dörfer, langweilige Landschaft. Erst als wir in die Seenlandschaft von Trakai kommen, wird es schöner. Wir haben Schwierigkeiten in Trakai einen Schlafplatz zu finden und probieren eine private Unterkunft über Googles, aber die gefällt uns nicht - heiß und schmuddelig. Wir suchen weiter und finden einen See - den Akmena - und gehen erstmal schwimmen. Das Wasser ist großartig - so klar und schön warm. Die Badestelle ist für Besucher ausgelegt und hat Beachvolleyballfelder. Wir sehen auf der Reise an vielen Plätzen gute Beachfelder, die auch oft bespielt werden.

Schließlich checken wir nördlich von Trakai auf einem Campingplatz ein, der auf einer Halbinsel liegt. Er ist mit 31 Euro/Nacht der teuerste und am wenigsten schöne auf der Reise. Trotzdem buche ich zwei Nächte, damit wir am nächsten Tag gemütlich Zeit haben uns Trakai anzusehen. Die Halbinsel scheint ein alter Festungsplatz zu sein. Er ist wie ein großer Kessel - Erdwälle ringsum und eine ebene Fläche im Inneren. Die Halbinsel des Campingplatzes liegt am nördlichen Ende des Galvė-Sees an dem Trakei mit seiner alten Burg im Süden liegt. Wir essen und schlafen dann im Auto. Nachts ballern Eicheln aufs Autodach - DENG. Ich wache jeweils auf, schlafe aber trotzdem gut.

Klarer See Akmena
Klarer See Akmena

Auf der Suche nach Unterkunft hatten wir gestern den kleinen Ort Trakai schon inspiziert und konnten uns einen Plan für den nächsten Tag machen. Morgens ist es bewölkt und kühl, aber trocken. Ich mache das Vordach ab - die grüne Plane und decke sie über den Tisch, sodass unser Platz reserviert bleibt. Unser Plan für heute ist, mit dem Auto ein Stück Richtung Trakai zu fahren, beim klaren See Akmena zu parken, zu baden und mit dem Rad weiter zu den Inseln der Stadt zu fahren.

Meisterschaft Magnify
Litauische Rudermeisterschaft

Das klappt auch alles toll und es wird auch wieder sonnig und warm. In die Stadt führt ein Radweg und man fährt am Galvė-See entlang. Auf dieser Seite liegt eine Rennanlage für Ruderboote und wir sehen dort Betrieb. Morgen soll die Litauische Meisterschaft stattfinden und es sind viele junge Athleten und Athletinnen auf Einern, Zweiern und Vierern unterwegs. Auch die riesigen Achter liegen an Ufer, aber Litauen hat nicht genügend Einwohner sie zu bemannen. Die Tribüne aufgebaut. Wir setzen uns auf eine Bank und schauen dem Treiben zu.

Zipfelmützen
Burgzwergenmützen

Wir fahren weiter an der Promenade, wo viele Touristen unterwegs sind. Es gibt viele Inseln hier und auf einer davon liegt die Wasserburg Trakai. Sie ist das meistfotografierte Motiv des Baltikums, daher bleibt meine Kamera meistens in der Tasche. Die Touristen sind aus vielen Ländern - ein derartiges Gemisch sehen wir an keinem anderen Ort des Baltikums. Viele Polen, aber auch Asiaten, Spanier, Schwarze. Man hört auch Russisch, Deutsch und Französisch. Wir bummeln über die Brücken zur Burg und machen ein Spaßbild.

Säulen Magnify
Was zum Teufel tragen diese Säulen?

In der Stadt gibt es viele nette Häuser. Bogusia stellt mit ihrem Handy postkartenähnliche Collagen zusammen, die sie in den WhatsApp-Status stellt. Die Bilder sind thematisch passend, z.B. "Alte bunte Holzhäuser". Bin angefixt und muss auch so ein Handy haben! Ich fotografiere gerne Objekte, an denen mir etwas auffällt, wie das blaue Holzhaus mit den fetten weißen Säulen davor.

Burg Trakai Magnify
Wasserburg Trakai

In der Nähe soll es ein Moor geben, dass wir sehen wollen. Wir umrunden die Stadt und navigieren mit GoogleMaps dorthin. Es ist eine schön komplizierte Fahrt durch die Stadt, über eine Holzbrücke, durch Felder, und Gärten und Waldstücke. Ich merke mir alles, damit wir wieder zurückfinden. Wir finden den Ort - es gibt eine Art Waldlehrpfad und wir schließen die Räder an und marschieren los. Der Wald ist schön, es ist warm und mückig. Leider ist der schönste Teil des Waldweges wegen eines Sturmes gesperrt, der vor ein paar Tagen oder Wochen wohl ganz Litauen gepackt hatte. Auch das Moor finden wir nicht, aber macht nix - mal ein bisschen Laufen ist immer schön in der Zweisamkeit.

Kiosk Magnify
Buntes Treiben am Galvė See

Am späten Nachmittag fahren wir zurück in die Stadt Trakai und wollen uns an die Promenade setzen, mit Blick auf das Wasser, die Burg, die Leute und den Bootsrummel. Statt eines Touri-Cafés wählen wir einen Imbiss mit ein paar Plastikstühlen davor. Der Besitzer ist nett, kann Polnisch und wir erfahren Vieles. So frage ich ihn nach den Russischsprachigen und der Rolle des Polnischen hier. Er hat zu Hause noch Polnisch von der Großmutter gelernt und viele Polen machen hier Urlaub. Sein Kaffee ist gut und er hat sogar Kwas und selbstgemachte Piroggen. Mir sind letztere allerdings zu fleischlastig. Lieber hätte ich welche mit Sauerkraut, aber du musst nehmen was da ist. Wir beobachten die Leute und hören, wie sie sprechen. Es ist sehr entspannt hier. Überhaupt erlebe ich die Balten als entspannte Leute, die korrekt und sauber sind. Wahrscheinlich ist hier abends auch Remmidemmi und Ballermann, aber das sehen wir nicht.

Campingplatz Magnify
Campingplatz in der alten Wallanlage

Auf dem Rückweg aus der Stadt zum Zeltplatz liegt der klare See Akmena, wo das Auto steht. Dort gehen wir wieder schön schwimmen und sehen den Heißluftballonen und Leichtflugzeugen zu, die im Himmel hängen. Ist schon eine krasse Touri-Gegend, aber es ist genug Freiraum und jeder findet etwas für sich. Wir kommen noch vor der Dunkelheit wieder zum Zeltplatz und ich decke eine Plane übers Autodach, damit der Eichelbeschuss uns nicht weckt.

Vilnius - Modernes Zentrum Litauens

Vilnius
Vilnius
Stadtrand
Vn

Wir kommen morgens gut los. Es ist wolkig und wir fahren Richtung Vilnius, der Hauptstadt Litauens. Wir durchqueren die Stadt von Süden kommend mit dem Auto und sehen das moderne Zentrum mit den schicken Bürobauten. Vilnius liegt an der Neris, deren Mündung in die Memel wir bereits in Kaunas gesehen hatten.

Omnibus Magnify
Alter Omnibus mit Oberleitung

Mir fallen die Omnibusse mit Oberleitung im geschäftigen Treiben der Stadt auf. Im Norden finden wir einen Parkplatz in einem Wohngebiet mit hässlichen Hochhäusern. Mittendrin steht ein wirklich rottes Holzhaus, wo noch Menschen drin wohnen. Wir laden die Räder vom Dach und fahren in die Innenstadt. Es gibt kaum Radwege und auch kaum Radfahrer. Langsam wird es auch schön warm und sonnig. Wir fahren nach Süden durch die Großstadt zur Altstadt, die südlich der Neris liegt. Dort angekommen, fahren wir kreuz und quer und sehen prachtvolle Bauten, gemütliche und lebendige Fußgängerzonen, Regierungsgebäude, die Universität und Kirchen.

Altes Haus Magnify
Verrottetes Haus im Wohngebiet

Wir schauen uns besonders die orthodoxen Kirchen an, denn die sind sehr eindrucksvoll mit den Zwiebeltürmen, die häufig vergoldet in der Sonne leuchten. Drinnen erstehe ich einen kleinen Ikonenschrein, einfach weil er so schön ist. Vilnius steckt eine Menge Geld in die Renovierung der Altstadt - ist ja auch Regierungssitz. Die Vororte erreicht der Wohlstand noch nicht so schnell - die Gebäude sind dort oft schäbig. Das macht aber das Alter und die kommunistische Herkunft. Zu Zeiten Stalins, Chruschtschows und Breschnjews waren die Hochhäuser mit ihren Fernheizungen und Sanitäranlagen fortschrittlich.

Irgendeine Festung hats hier auch - wir lassen sie links liegen
Meine tapfere Begleiterin ganz rechts
St. Kasimir-Kirche mit modernem WiX-Haus davor
Südlich vom Kathedralenplatz mit seinem Turm
Historischer Präsidentenpalast mit Braut
Kathedralenplatz mit Turmbasis vorne links
Akkordeonspieler Magnify
Akkordeonspieler

In der Fußgängerzone sitzt ein junger Mann und spielt herzerweichend Akkordeon. Er ist ein Berufsmusiker aus der Ukraine und verdient hier etwas Geld. Ich kaufe seine CD. Bogusia und ich setzen uns gegenüber in ein Café und genießen den Tag.

Normales Haus
Normales Haus

Für unsere Knips-und-wech-Taktik sind meine Urban-Bikes perfekt. Überfallartig stürmen wir die Innenstädte und kommen überall durch, während Autofahrer verzweifelt Parkplätze suchen und chinesische Touristen sich die Füße wund laufen. Die dicken Reifen trampeln mit ihren 2 Bar Luftdruck über die Kopfsteinpflaster der pseudomittelalterlichen Straßen. Warum eigentlich Kopfsteinpflaster? Sieht nicht nur gut aus, muss selten repariert werden und keiner fährt zu schnell. Und noch ein Grund fällt mir ein - Kopfsteinpflaster speichert Wärme, statt sie zurückzustrahlen, wie es Asphalt täte.

Tafeln Magnify
Tafeln mit Bildern von Früher

Auf einem Platz in der Fußgängerzone entdecke ich Tafeln mit historischen Fotos aus der Zeit des Krieges und der Unabhängigkeit davor. Solche Fotos sehe ich mir immer genau an. Die baltischen Länder klären mit Hilfe solcher wetterfesten Tafeln ihre Bevölkerung über die Vergangenheit auf. Ich nehme an, das hängt mit der Indentitätsfindung nach der Zeit der russischen Besatzung zusammen. Ich schaue mir die Gesichter der Menschen auf den Fotos an und stelle mir vor, wie es war zu der Zeit gelebt zu haben.

Kirche Magnify
Orthodoxe Kirche

Das sieht jetzt alles recht schön aus, doch es war ja die Altstadt einer Hauptstadt. In der normalen Stadt, wo die Menschen leben, stehen die hässlichen sowjetischen Hochhäuser oder alte Stadthäuser aus der Zarenzeit oder der Zeit der Unabhängigkeit zwischen den Kriegen.

Villenvorort
Villenvorort an der 102

Durchs östliche Oberlitauen

Wir fahren rechtzeitig weiter nach Norden, weil wir in das Seengebiet im nordöstlichen Seengebiet Litauens wollen. Ich überlege, dass die etwas abgelegenere 102 nach Nordosten vielleicht interessanter ist als die Hauptstrecke der A14. Die Straße führt durch waldige Vororte mit teuren modernen Villen aus Vilnius fort. Ca. 8 km vor dem Örtchen Paprade an der 102 finden wir rechts einen kleinen Waldweg, der nach 100 m an einer Flussschleife der Žeimena endet, die das Memelbecken entwässert.

Žeimena
Flussschleife der Žeimena
Zm

Der Mischwald sieht mückig aus, aber es geht mit dem polnischen Anti-Mücken-Kampfstoff, den ich noch von meiner Drawa-Tour habe. Wir werden im Bus schlafen und ich baue das Vorzelt auf. Später ziehen Wolken auf, aber Fahrräder stehen trocken unter dem Vorzelt. Aber jetzt ist es noch schön und ich gehe in der starken Strömung des Flüsschens baden.

Ikonenschrein
Tagebuch schreiben

Ich finde Ruhe und schreibe die Erlebnisse des Tages auf. Ich schaue mir den kleinen Ikonenschrein an - hübsch.

Später kommt ein Auto und ein Mann mittleren Alters steigt aus. Er ist nett, spricht polnisch mit Dialekt und wir unterhalten uns. Er hat Polnische Wurzeln und hat mal studiert, aber jetzt verdient er sein Geld mit der Organisation von Kanu-Touren. Das ist auch der Grund, warum er hier ist. An diesem Platz sollen morgen Touristen in ihre Kanus steigen und er will den Platz von umgestürzten Bäumen befreien, darum hat er eine Kettensäge mit. Vor einer Woche war hier ein Sturm und es liegt noch viel herum. Ich verspreche ihm, dass wir morgens schon aufbrechen wollen. Er meint das sei kein Problem, er werde seine Jungs anweisen Rücksicht zu nehmen.

Am späten Abend regnet es und ich muss nachts raus. Ich stehe da so und sehe etwas im Augenwinkel. Nanu, hat es da gefunkelt im Gebüsch? Ich werde wach und beobachte - tatsächlich, da glimmt ein Punkt ganz schwach im Unterholz. Nun schaue ich genauer hin und entdecke mehrere Punkte in den Büschen, die wechselnd aufleuchten und verlöschen. Sie blinken etwa im 3-Sekunden-Rythmus - 3 Sekunden leuchten, 3 Sekunden Dunkelheit. Am nächsten Tag lese ich, dass es Glühwürmchenarten gibt, die sich an den Blinkmustern unterscheiden. Und es gibt sogar welche, die machen zur Täuschung die Muster anderer Arten nach, um sie zu verspeisen. Das hier müssen Kurzflügelleuchtkäfer sein.

Pilsudski Magnify
Denkmal an Józef Piłsudski

Na, Hauptsache, sie verspeisen nicht uns. Am Morgen machen wir zeitig unser Frühstück mit Kaffee, Tee und Müsli und packen unsere Sachen. Gegen 9:00, gerade als wir losfahren, kommen die Kanus und wir winken dem Mann noch zu, den wir am Tag zuvor kennengelernt haben. Ich habe keinen so richtigen Plan und wir leben in den Tag hinein und fahren los.

Wir geraten erst einmal in eine Alkoholkontrolle der Polizei und ich muss pusten - alles sauber. Es ist heute etwas grau und kühl und nieselt etwas. Wir fahren durch die Landschaft und entdecken ein Hinweisschild auf irgendetwas mit Piłsudski. Was für ein Zufall - ich lese ja gerade ein Buch "Polen verstehen", das die jüngere polnische Geschichte beschreibt. Józef Piłsudski war eine wichtige Persönlichkeit dieser jüngeren Geschichte und ist eine Art Nationalheld in Polen. In einem Haus hier in Litauen, irgendwo in der Nähe, ist er geboren. Es gibt ein Denkmal mit Steinen bekannter polnischer Opfer der jüngeren Vergangenheit.

Auf dem Gendenkstein steht u.a. "Er gab Polen Freiheit, Grenzen, Macht und Respekt". Es gibt auch so einen Kult in der PiS-Partei um den Typen.

Magnify
Orthodoxe Kirche in Švenčionys
Sc

Wir fahren weiter nach Švenčionys, einer Art Kreisstadt. Von hier ist es nicht weit zu dem Seengebiet und wir finden mit Google die Touristeninfo. Sie ist im ersten Stock eines alten Hauses am Park im Zentrum der Kleinstadt. Die Tür ist verschlossen, obwohl Öffnungszeit ist. Wir gehen die Treppe herunter und begegnen der Dame, die die Info betreibt. Sie war kurz Birnen besorgen und teilt sie mit uns. Es gibt auch viele Infos und gute Karten. Auf einer solchen finden wir einen schönen Platz, doch zunächst bummeln wir etwas durch den dunklen Park vor der Touristeninfo. Es gibt hier Kirchen und die eine davon wird gerade von den Gläubigen besucht. Wo der Park ist, war früher ein jüdisches Ghetto und es steht nur noch ein Backsteingebäude darin. Tafeln erinnern an den Ort. Eine weitere Kirche schauen wir uns von außen an - sie hat eine besondere Architektur, wie die meisten orthodoxen Kirchen. Der Tag ist dunkel und grau und es ist schwierig ein gutes Foto zu machen.

Labanoras - Walddörfer und Seen

Der kleine See Baltas Magnify
Der kleine See Baltas
Im Zelt im Wald
Im Zelt im Wald am See
Wald am Baltas
Vordach kriegt neue Stangen

Wir fahren weiter und finden einen schönen Platz im Wald an dem kleinen See Baltas bei Labanoras. Das Wetter wird wieder sonniger. Im trockenen Nadelwald gibt es Blau- und Preiselbeeren. Der See glitzert durch die Bäume und es duftet nach Nadelbäumen. Manchmal höre ich einen lauten Vogelruf, den ich nicht zuordnen kann. Wir sehen aber Seeadler. Ich baue das Vordach und das Zelt auf.

Waldsiedlung Magnify
Eine Waldsiedlung
Bach im Wald Magnify
Bach im Wald

Wir schlafen gut im Zelt, aber es ist kühler geworden. Unsere Betten sind aber gut, mit Matratzen und genügend Decken - gemütlich. Am nächsten Morgen baue ich nach dem Frühstück das Zelt ab, aber wir beschließen danach noch eine Nacht zu bleiben. Das Wetter bessert sich und lädt zu einer Radtour durch den Wald ein. Der Weg ist gut zu befahren und der Wald ist abwechslungsreich. Wir passieren einen sonnendurchfluteten Waldbach und waten darin ein wenig.

Holzhäuser
Viele Holzhäuser hier

Nach ein paar Minuten fahren wir an einem See vorbei und durch ein kleines Walddorf, in Wiesen eingebettet. Es sieht nett aus mit seinen Holzhäusern. Mir scheint, die Menschen hier kommen hauptsächlich im Sommer her. Nach dem Dorf fahren wir eine schreckliche staubige Buckelpiste und kommen in das Dorf Labanoras. Es hat eine kleine Holzkirche mit Blitzableiter, die schon mehrfach abgebrannt ist. Da stellt sich doch die Frage: "Warum haben Kirchen eigentlich Blitzableiter?"

Im gesamten Baltikum fallen mir die Dächer aus hässlichem grauen Wellenternit auf. Genau heißt es "Wellplatte aus Asbestzement". Bei uns sind die lange für Neubauten verboten, hier bestimmt auch. Oder man nimmt andere Fasern als Asbest. Aber in sowjetischen Zeiten musste das Billigste her. Ich schätze, dass 90 % der Häuser noch solche Dächer haben. Bei Sanierungen sind Profilbleche beliebt, selten Dachsteine oder gar Dachziegeln.

Holzkirche in Labanoras Magnify
Holzkirche in Labanoras

Neben der Kirche gibt es einen kleinen Dorfladen, der bestimmt schon sehr alt ist. Davor sind kleine Stände, wo fröhlich schwätzende Frauen typische Waren der Gegend verkaufen - Beeren, Pilze, Honig usw. Der Ort ist ja Teil eines großen Naturparks mit vielen Seen, ähnlich den Masurischen Seen, denke ich. Es ist hier "viel" einheimischer Tourismus zu sehen. Die Häuser des Ortes sind alles alte bunte Holzhäuser in mehr oder weniger erhaltenem Zustand. Auf jeden Fall ist der Ort lebendig. Aber wie fast überall, gibt es eben viel Tourismus, aber immer dünn verteilt, nie überlaufen. Eigentlich genau richtig. Eigentlich könnte man seinen ganzen Urlaub nur in dieser Gegend verbringen. Aber das passt ja nicht zu unserer Knips-und-wech-Taktik.

Restaurant
Gemütliches Restaurant in Labanoras

Wir fahren durch das Dorf an der Hauptstraße, schauen uns die bunten Holzhäuser an und biegen rechts ab zu einem ausgeschilderten Restaurant. Es ist recht groß, aber gemütlich und liebevoll ausgestattet und in einem Obstgarten gelegen. Während wir essen und dann unseren Kaffee und die Sonne genießen, bedeckt sich eben jene und es beginnt heftig zu regnen. Wir flüchten ins Innere, wo es ebenfalls sehr gemütlich ist. Ich bestelle Kwas, welches sich zu meinem Lieblingsgetränk entwickelt. Dieser Kwas ist frisch und mit Minze versetzt - lecker.

Kwas
Kwas mit Minze
Special: Kwas
Kwas Magnify
Glückliche Menschen hier - soviel Kwas

Kwas ist ein altes, in Osteuropa verbreitetes Erfrischungsgetränk. Es wird aus vergorenem Roggenbrot hergestellt und schmeckt ähnlich wie unser Malzbier, hat Kohlensäure, ist mal hell, mal dunkler und kann bis 0,5 % Alkohol enthalten. Der Geschmack kann mit Minze verfeinert werden. In den baltischen Ländern findet man Kwas in jedem Supermarkt in 1,5 Liter-Plastikflaschen.

Ich habe davon mal in einem alten russischen Märchen gelesen, wo die Babajaga aus ihrem Fass einen mächtigen Schluck Kwas trank, wusste aber nie, was das eigentlich ist. Erst letztes Jahr brachte ein Kollege aus der Ukraine mal davon etwas mit und ich lernte es kennen.

Wenn auf dem Hof meines Schwiegervaters in Hinterpommern Erntehelfer kamen, hatte seine Mutter ein Fass Kwas für die Erfrischung vorbereitet. Man kann Kwas sehr gut selber herstellen.

Gestern habe ich Kwas hier in unserem Rewe-Supermarkt entdeckt. Die verschiedenen Marken, die ich probiert habe, sind durchaus unterschiedlich. Manche sind dunkel und hinterlassen eine krümelige Substanz in der Flasche. Es schmeckt aber etwas dünner und ist nicht so lecker, wie ich es von der Reise her kenne.

Moped Magnify
Ein mechanisches Meisterwerk

Der Schauer ist bald vorüber, es ist wieder sonnig und wir wollen zurück zu unserem Platz am See fahren. Da kommt ein Mopedfahrer angefahren und parkt sein Fahrzeug. Faszinierend. Bei uns würde er damit mindestens ins Gefängnis kommen. Hier darf er fröhlich durch das Dorf fahren. Ich gönne es ihm. Ein Meistermechaniker vor dem Herrn - alle Achtung, wir können einiges lernen:

  1. Wozu Schrauben, wenn man ein Schweißgerät hat
  2. Putzen - nur vor einer Neulackierung erforderlich
  3. Fahrradteile sind billiger!
  4. Rückspiegel kann man selber bauen
  5. Sattel nach hinten verlegen -> Gepäckträger verlängern
  6. Klebeband - dein Freund in allen Lagen

Aber im Ernst - der Motor klingt gesund und willig und alles scheint fest und zuverlässig. Ich denke, es gibt da ein Abkommen mit dem Dorfpolizisten.

Kaufladen Magnify
Dorfladen mit leckeren Sachen drin

Auf dem Weg zurück kommen wir bei dem kleinen Kaufladen neben der Kirche vorbei und kaufen dort ein. Es gibt geräucherte Würste für 1,50 € das Stück. Außerdem kaufe ich so einen blauen Karton mit weißem Schaum-Naschwerk. Das Zeug ist so supersüß, dass es einem das Gebiss wegbrennt. Ist aber lecker. Die Würste auch.

Verhexter Steg
Verhexter Steg - die Schwerkraft spielt verrückt

Für den Rückweg wähle ich eine andere Route, denn wir wollen die Piste meiden. Mit der guten Karte aus Švenčionys kein Problem. Der Weg führt an der wenig befahrenen Hauptstraße durch den Wald, an einem Waldlehrpfad und schließlich durch die Seen zum Ziel. Unterwegs nach dem Ortsausgang Labanoras baden wir in einem See mit einem schiefen Steg. Die Badestelle gehört wohl zur Gemeinde und ist gepflegt. Es ist windig geworden und die Bäume am See biegen sich. Der Steg am See ist verhext. Wenn man sich darauf setzt, gelten die Gesetze der Gravitation nicht mehr so genau.

Blaubeeren
Welche Tat führte zu solchen Fingern?

Zurück im Lager, entdecke ich einen Bären, der über unsere Vorräte herfällt. Ich stürze mich auf das Tier und töte es mit bloßen Händen. Zum Beweis seht ihr meine blutigen Finger. Dann chillen wir und ich esse Blaubeeren.

Lettland

Landschaft Magnify
Typische Landschaft hier
Abschied Magnify
Es war schön, aber die Straße ruft

Heute wollen wir nach Lettland. Wir haben im Auto geschlafen, es ist kühl, aber die Morgensonne wärmt jetzt gegen 7:30. Ich habe gestern Zeit gefunden, endlich Stangen für das Vordach zu fertigen. Zwei junge Eschen mussten dafür herhalten. Meine improvisierten Bündel aus Fiberglaszeltstangen waren suboptimal. Auch die Befestigung der Fahrräder auf dem Dach wird verbessert. Mit der in Vilnius gekauften Leine fertige ich kurze Enden, mit denen ich die Reifen an der Dachreling mit Kreuzknoten befestige. Jeden Reifen an zwei Punkten und den Lenker auch noch - kein Geklapper mehr auf dem Dach.


Pilis Magnify
Blick vom Pilis auf die Seen

Ich wähle eine Route durch Wälder und Seen Richtung Zarasai. Unterwegs besteigen wir eine Pilis (Festungshügel) und ich knipse den Blick. Gefühlt überall waren hier Festungen auf den Hügeln. Die weitere Landschaft ist ruhig, viele Wiesen und Gehölze, ärmliche Dörfer mit ollen Holzhäusern. Das Wetter scheint schlechter zu werden. Noch ist es trocken, aber die Wolkenbänke werden dichter.

Zr

Wir sehen am Straßenrand einen Steg am See und machen eine Pause. Man hat einen schönen Blick auf die Stadt Zarasai von hier, aber das Wasser lädt nicht zum Baden ein. Ich erinnere mich gar nicht, ob ich drin war. Normal ist Pflicht. Zarasai scheint ein Touri-Zentrum zu sein, aber wir schlendern nur mal über den großen Observationsbogen über dem See - Knips-und-wech. Ist aber auch recht nett hier und man müsste sich die Kirche ansehen. Sie hat Zwiebeltürmchen, ist aber katholisch. Ok, es geht weiter über die Grenze nach Lettland. Sieht hier genauso aus wie in Litauen.

Zarasai Magnify
Zarasai
Magnify
Abzweig nach Daugavpils in Lettland bei Zarasai
Magnify
Google sagt, das sei das Regionalmuseum
Magnify
Schöne Aussicht bei Zarasai
Magnify
Grenze nach Lettland

Lettland hat 5 Regionen und die südöstliche, die wir nun betreten heißt Lettgallen. Es gibt in der lettischen Sprache entsprechende Dialekte, aber das bleibt mir verborgen. Ich kriege mit Mühe und Not "Bitte", "Danke" und "Guten Tag" zustande. In der Region hier wird aber sowieso mehr Russisch gesprochen und das ist mir näher.

Daugavpils - die russische Stadt Lettlands

Daugavpils

1. Tag

Daugavpils Magnify
Daugavpils ist kein Bier sondern die Stadt
Dp

Wir nähern uns einem der Höhepunkte unserer Reise: Daugavpils. Ich bin ja als halber Autist nicht so der Städtemensch, sondern eher der Naturbursche, aber diese Stadt beeindruckt mich doch irgendwie. Sie liegt an der Düna und heißt im Deutschen Dünaburg. "Pils" bedeutet also "Burg".

Denkmal Zeitenwandel Magnify
Die historischen Namen Daugavpils'

Lettland hat insgesamt den höchsten Anteil an russischsprachigen Menschen - 30 %, die sich Aufteilen in 23,7 % Russen, 3 % Weißrussen und 3 % Ukrainer. Menschen, die sich nicht kulturell zu Lettland bekannt haben, haben den Status der sog. "Nichtbürger". Sie haben volle Rechte als EU- und Staatsbürger, aber kein aktives oder passives Wahlrecht. Siehe Wikipedia. Die Russischsprachigen sind nicht gleichmäßig verteilt. Hier in Daugavpils ist Russisch vorherrschend, aber es wird auch Polnisch gesprochen.

Denkmal Unabhängigkeit Magnify
Denkmal der 1. lettischen Unabhängigkeit

Wir nähern uns von Süden und sehen die legendäre Düna - dem Fluss, auf dem die Wikinger von der Ostsee kommend das Schwarze Meer und Konstantinopel über eine Landbrücke zum Dnjepr erreichten. Eine solche Reise ist in den großartigen "Prinz Eisenherz"-Comics von Hal Foster dargestellt. Als Student habe ich diese Comics verschlungen und viele der Darstellungen haben mich inspiriert. Doch zurück in die Gegenwart. Es ist nun dunkel und grau geworden, aber noch trocken, als ich das Denkmal aus der Sowjet-Zeit fotografiere. Es ist 1975 enthüllt worden, gedenkt des lettischen Unabhängigkeitskrieges 1918-1920 vom Zarenreich und ist im typischen Sowjet-Stil 1975 gebaut worden.

Kalksandstein Magnify
Kalksandstein, billig und hässlich

Als wir über die Brücke fahren, geht der Starkregen los. Wir bleiben im Auto und parken in der Stadt zwischen grauen Stadthäusern gegenüber einem Fahrradgeschäft. Ich spurte hinüber, da ich einen Ersatzschlauch erwerben möchte. Der junge Mann spricht nur Russisch. Ich schaffe es, ihm irgendwie klarzumachen, dass ich einen 29"-Schlauch mit Autoventil möchte. 7€ - Deal. Ich presse ein "Spassiba" heraus. Mein erstes russisches Wort. Ich kann eigentlich nur "Spassiba" - Danke, "Doswidania" - Auf Wiedersehen, "Da" - ja und den Rest leite ich von meinem Polnisch ab. Verstehen geht besser. Habe aber dafür keine Hemmungen zu sprechen und es bringt mir Freude in der Fremde etwas zu verstehen. Hier sind übrigens alle Beschriftungen auf Lettisch, selten auf Russisch, obwohl man praktisch nur Russisch hört.

Schöne alte Stadthäuser Magnify
Schöne alte Stadthäuser

Wir wollen erstmal die Stadt erkunden und haben sonst wieder einmal keinen Plan, außer die große Festung aus der Zarenzeit zu sehen. Wir parken das Auto westlich der Altstadt in einem hässlichen Stadtteil mit Hochhäusern aus der Spätzeit der Sowjetunion, als es keine Illusionen mehr gab und billig gebaut werden musste. Die Häuser würden bei uns als Rohbau durchgehen, weil sie aus den im Baltikum verbreiteten unverputzten weißen Kalksandsteinen gebaut sind.

Kartenmaterial
Endlich Kartenmaterial!

Wir gehen zu Fuß durch die grauen, regennassen Straßen Richtung Stadtzentrum, um Karten zu kaufen. Wir finden ein modernes Einkaufszentrum mit Rynek (das ist ein Polenmarkt - so etwas gibt es hier auch). Diese Märkte kenne ich aus Polen. Es sind einfache Marktstände, z.T. in Hallen, die man belegt. Bei uns bringt ja jeder Markstand seine Tische selbst mit, in Osteuropa sind es meistens permanente Stände, für die man wahrscheinlich eine Miete zahlt. Diese rummeligen Märkte bilden einen Gegensatz zu den modernen Geschäften der Gegenwart mit ihrer Lichter- und Glaspracht. Ich finde kein Geschäft mit Karten und wir beschließen die örtliche Touristeninfo aufzusuchen. Wir finden sie und ich bekomme Stadtkarten, Material zur Festung und eine Wegbeschreibung zu einem Buchladen in der Nähe. Den finden wir auf Anhieb und er hat eine detaillierte Straßenkarte von Lettland. Das Wetter hat sich auch gebessert.

Hotel Magnify
Günstiges Hotel im Stadtzentrum

Wir kriegen Hunger, suchen uns ein Restaurant und finden eines in der Vienebas iela. Hier spricht man natürlich Russisch, aber wir bekommen, was wir möchten, gut und günstig - ich esse eine Soljanka. Wir belauschen die Leute - sie sprechen alle Russisch. Das ist für uns fremd und interessant. Ich verstehe vieles. Wir verlassen das Restaurant, gehen am Theater vorbei und stellen fest, dass es uns hier gefällt und wir hier übernachten wollen. Wir fragen im nächstbesten Hotel, dem Saules rati an der Ģimnāzijas iela und ich frage nach dem Preis: 40€ - Deal! Das Zimmer ist gut und ruhig in einem renovierten Altstadtbau mit hohen Decken und breiten Treppen. Ich hole das Auto und parke vor dem Hotel, weil es ab 18:00 nichts mehr kostet.

Straßenbahn Magnify
Straßenbahn mit 1520 mm Breitspur

So, alles Wichtige erledigt, jetzt kann der Spaß beginnen. Wir schauen uns in der Stadt um. Es gibt eine moderne Straßenbahn! Ich liebe Straßenbahnen. Diese hier hat die russische Breitspur von 1520 mm. Wir entdecken eine schöne orthodoxe Kapelle in einer gepflegten Anlage vor der Universität. Überhaupt wirkt die Stadt gepflegt. Viele Häuser sind zwar alt und warten auf Renovierung, doch das hat einen besonderen Charme, so ein wenig wie in Venedig. Allerdings mischen sich hier die Baustile aus der Zarenzeit, dem frühen Kommunismus, dem späten Kommunismus und der modernen Zeit. Zum Glück sind die hässlichsten Bauten nicht alle im Stadtzentrum, so wie ich es von Polen oder der DDR her kenne. Hängt vielleicht mit den Kriegsverläufen zusammen.

Orthodoxe Kapelle Magnify
Kapelle des heiligen Alexander Newski
Luftkissenboot Magnify
Luftkissenboot der Feuerwehr

Nachdem wir das Zimmer belegt haben, rennen wir wieder los, die Abendstimmung noch einzufangen. Der Himmel ist strahlend blau, die Sonne wird golden und wir spazieren vom Platz des Stadtzentrums durch den Park an der Feuerwehr vorbei zum Fluss. Bei der Feuerwehr fällt mir ein Anhänger auf dem Hof auf und ich frage artig die Feuerwehrleute, ob ich fotografieren darf - ich darf und entdecke ein Luftkissenboot! Es ist ein modernes russisches Gerät mit einem Subaru-Motor. Ich frage, wie oft es gebraucht wird und man antwortet mir, es werde eigentlich nur zu Übungszwecken verwendet. Muss klasse sein, damit über die Düna zu brettern. Wahrscheinlich bekommt es wegen des Eisganges auf der Düna im Winter eine Bedeutung.

Springbrunnen
Zentraler Park

Im Park sprudelt ein schöner Springbrunnen und ein sowjetisches Denkmal mit einer ewigen Flamme erinnert an irgendetwas Heldenhaftes. Als wir an die Düna gelangen, herrscht schönes Abendlicht. Die Abendstimmung ist so schön und uns gefällt es hier sehr. Unser Hotel ist dicht an dem zentralen Platz mit dem Park und der Feuerwehr drin. An dem Platz steht ein riesiges Hotel, das offensichtlich aus der Sowjetzeit stammt, aber moderne Architekturelement aufweist. Ich vermute, es wurde nach der Unabhängigkeit entsprechend gepimpt. Wahrscheinlich verpassen wir etwas, dass wir nicht dort eingecheckt haben. Wir lassen in dem Restaurant an der Vienibas iela gegenüber dem Theaterplatz den Tag mit einem Wein ausklingen. Zurück im Hotel buche ich noch die nächste Nacht, da wir etwas länger bleiben wollen. Wir haben Glück und können das Zimmer behalten.

Ewige Flamme Magnify
Ewige Flamme im Park - erinnert an irgendwas Heldenhaftes
Düna Magnify
Düna nach Westen mit dem Wärmekraftwerk
Düna Magnify
Düna nach Osten

2. Tag

Zitadellen Magnify
Zitadellen des Festungswerkes

Nach einer gut verschlafenen Nacht stehe ich kurz vor 8:00 auf und parke das Auto auf den Hotelparkplatz im Hinterhof, um die Parkgebühr zu sparen. Auf dem Rückweg bringe ich der Frau einen Kaffee mit, damit auch sie einen guten Start in den Tag hat. Als Erstes steht die große zaristische Festung auf dem Programm. Wir wollen dorthin mit dem Rad - 2 Kilometer Luftlinie nach Nordwesten - um erstmal zu frühstücken.

Michaelstor Magnify
Michaelstor von Südosten

Es ist grau und auf dem Weg beginnt es zu regnen und wir werden nass, bevor wir dort angekommen sind. In einem der Vorwerke stellen wir uns unter und ich bewundere die Kasematten für die Geschütze. An den Decken sind noch schwere geschmiedete Eisenhaken zu sehen, an denen die Stücke gehievt wurden. Es müssen schwere Geschütze gewesen sein, vielleicht 42-Pfünder.

Kasematte Magnify
Kasematte mit Haken für schwere Stücke

Als der Regen nachlässt, gelangen wir durch das Michaelstor in die Festungsanlage. Es ist eines der 4 Haupttore. Die Festung besteht aus einem inneren Oval von etwa 700 m x 450 m, mit Gebäuden und einem zentralen Platz. Die Straßen verlaufen rechtwinklig und reißbrettartig, anders als Altstädte mit historisch gewachsenen Straßenverläufen. Umgeben ist die Festung von den typischen gezackten und geschachtelten Bastionen zur Abwehr von Feuerwaffen. Diese Zitadelle von Daugavpils wurde erst zu Beginn des 19ten Jahrhunderts geplant und gebaut und war rechtzeitig zum napoleonischen Krieg von 1812 fertig.

Kanone Magnify
Arsenal mit Gezogener Mantelringkanone von 1883

Ich erkundige mich in dem ehemaligen Zeughaus nach einem Frühstück, aber es sieht nicht gut dafür aus. Wir sind zu früh. Wir fahren mit dem Rad wieder zurück in die Stadt und frühstücken schön gemütlich in dem Restaurant an der Vienibas iela. Hier fühlen wir uns langsam heimisch. Das Wetter bessert sich und wir nehmen den zweiten Anlauf auf die Festung. So fahren wir auf dem fahrradautobahnartigen Radweg wieder zurück zur Festung.

Schilf Magnify
Naherholungsgebiet mit Schilfzone

Auf dem Weg dorthin liegt ein Naherholungsgebiet mit Schilfzone, durch die ein Bretterpfad führt. Sehr nett - wir bummeln da mal durch. Die machen hier echt viel für Tourismus, Stadtbild und vielleicht für die Studenten und Angler und so. Das Innere des großen Ovals der Festung besteht aus ehemals prächtigen Gebäuden, die aus der zaristischen Zeit stammend, von den Sowjets ausgebaut, gepflegt und wohl auch abgerissen wurden, um andere Zweckbauten zu erbauen. Schließlich hatte die Festung immer einen Nutzen. Sie wurde zur Zeit der deutschen Besatzung 1941 bis '44 als Ghetto für die jüdische Bevölkerung genutzt. Peinlich, peinlich für das deutsche Volk. Wieder einmal haben wir den übelsten Anteil an der Geschichte.

Garnisonshaus Magnify
Garnisonshaus

Heute überlegen die Letten, wie sie den ganzen Komplex nutzen sollen. So bildet der östliche Teil ein Wohngebiet mit den typischen hässlichen Kalksandsteingebäuden der späten Sowjet-Ära. Ein top restaurierter Gebäudekomplex dient der örtlichen Polizeikommandantur. In der Mitte ist ein parkähnlicher "Festungsgarten". Im nordöstlichen Teil gibt es einige Ruinen. Mir fällt ein fehlplatzierter Hangar in Kalksandstein auf. Erwähnte ich schon, das unverputzter Kalksandstein hässlich ist? Hier stand früher tatsächlich ein Flugzeug drin - eine MiG-19S.

Garnisonshaus Magnify
Garnisonshaus, man beachte den Stern

Wir besichtigen zum Abschluss das Pumpenhaus. Es hat im Obergeschoss einen großen, offenen Eisentank für Trinkwasser, der aus der Düna gespeist wurde. Im Erdgeschoss gibt es ein kleines Museum - eines von mehreren in der Festung - in dem ich mit einem Angestellten spreche. Ich frage ihn, ob er Historiker ist. Er ist tatsächlich einer und er gibt mir einige interessante Auskünfte. Das erinnert mich an einen polnischen Historiker in der Festung in Kostrzyn nad Odrą in Polen, den ich einst kennenlernte. Er war ein introvertierter Spezialist für Festungswerke.

Garnisonshaus Magnify
Garnisonshaus

So introvertiert, dass er vor lauter Forschung nicht einmal bereit war, sein Wissen mit mir zu teilen. Ich nahm ihm das damals nicht übel, denn ich war von einer Mitarbeiterin von ihm vorgewarnt worden. Damals begann ich mich (in bescheidenem Ausmaße) für die Kunst des Baues von Festungswerken zu interessieren. Ich kann dazu den ausgezeichneten Roman "Der Untergang Barcelonas", 2015, ISBN 978-3-10-061607-4 von Albert Sánchez Piñol empfehlen.

Garnisonshaus Magnify
Garnisonshaus

Ach ja - der Historiker hier im Pumpenhaus. Ich sage ihm, wie toll ich es finde, dass die alten Gebäude aus der russischen Zeit so gut erhalten werden. Er meint daraufhin, dass das auch Erinnerungen an die Besatzer seien. Der Zwiespalt wird mir bewusst, in dem sich die Historiker und das lettische Volk sich hier befinden. Besonders als wir später Sillamäe besuchen, muss ich an den Historiker denken. Wozu sollen die Letten mit ihrem hart erarbeiteten Geld eigentlich eine Stalin-Disney-World errichten? Micky Maus hat die Amerikaner nie verschleppt, ermordet und mickyfiziert. Disney-World - kein Problem, aber Stalin-World?

Garnisonshaus Magnify
Garnisonshaus

Tja, diese Festung allein könnte mich eine Woche beschäftigen. Doch die Knips-und-wech-Taktik lässt es diesmal nicht zu. Wenn ich eines Tages mal Rentner bin, werde ich vielleicht ein halbes Jahr dafür einplanen all das nachzuholen, was ich hier ständig gezielt versäume. Daugavpils - mindestens eine Woche. Dann werde ich auch das Flugzeugmuseum in Kaunas besuchen, Tallin, die vielen Museen, die anderen Seen um Labanoras, eine Kajakreise auf der Memel, eine 100km-Radtour auf der kurischen Nehrung, eine Fahrt mit der Raketa (träum)...

Katze auf Fernwärme Magnify
Katze auf Fernwärmerohr

Wie andere Städte des Baltikums ist auch Daugavpils fernwärmeversorgt. Hier und da sieht man die Rohre überirdisch. Die Dämmung ist vielleicht nicht immer gut, jedenfalls fühlt sich diese Katze wohl auf den Rohr.

Gefängnis Magnify
Hier wohnen unartige Letten

Wir verlassen die Festung schweren Herzens, viele Museen und Ausstellungen zurücklassend. Selbst in diesem Bericht fehlt so vieles, was mir auffiel und ich auch fotografiert habe. Wir schließen die Fahrräder an der Straßenbahnhaltestelle an. Diese Endstation mit ihrer Wendeschleife liegt auf der südöstlichen Stadtseite der Festung, wo wir auch hereingekommen sind. So fahren wir also mit der modernen Straßenbahn zurück in und durch die Stadt. Sie rumpelt vor unserem Lieblingsrestaurant vorbei und durch den südöstlichen Teil der Altstadt, der etwas mehr alte und marode Häuser aufweist, dunkler ist und lebendig bewohnt. Am südöstlichen Ende der Altstadt biegt die Tram nach Nordosten ab, denn die Gleise verlaufen parallel zur Straße des 18.-Novembers. Wir sehen ein Gefängnis und dann vom Tal der Düna bergauf zu den Vororten mit ihren gemauerten Wohnblocks fahrend ein Viertel mit den schönsten Kirchen. Schließlich entfernen wir uns vom Stadtzentrum und mir wird etwas mulmig, daher steigen wir lieber aus.

Bahnhof Magnify
Bahnhofsgebäude aus der Stalinzeit
Haus Magnify
Verlassenes Wohnhaus

Hier sind wir außerhalb der Altstadt an der Haupteinfallstraße mit den großen Wohnblocks, wo auch bald schon die grünen Vororte kommen. Nach einer Weile des Wartens marschieren wir zu Fuß wieder Richtung Stadt, weil uns zu langweilig zum Warten ist. An der Haltestelle fällt mir ein leerstehender Wohnblock auf. Es gibt in den baltischen Ländern einige davon. Gerade in Lettland sind zur Unabhängigkeit von Russland hunderttausende Russen wieder in ihre Heimat umgezogen. Das waren Soldaten, die hier mit ihren Familien stationiert waren. Daher kam einiger Bevölkerungsschwund und Leerstand, besonders in Lettland.

Lokomotive Magnify
Lettische Lokomotive

Wir kaufen etwas ein, Kwas zum Beispiel, und fahren zurück zum Hotel mit der Tram um uns auszuruhen. Schade, dass wir die Kirchen uns nicht angesehen haben. Nach kurzen Ruhe im Hotel bekommen wir wieder Tatendrang und wollen etwas unternehmen. Wir wollen nicht weit gehen, marschieren aber dann doch los und kommen zum Bahnhof. Es ist ein großes sowjetisches Gebäude der Stalinzeit mit allerlei Firlefanz, der die Menschen beeindrucken sollte. Wir halten uns dort etwas auf und ich schaue einer Lokomotive zu, die nach Riga losfahren will. Es ist eine alte Diesellok der SŽD-Baureihe ДР1, die bei Rīgas Vagonbūves Rūpnīca in Riga gebaut worden war.

Schieber Magnify
Fernwärmeschieber

Der Nachmittag ist noch sonnig und wir gehen weiter an den Gleisen, wo mir herrlich überwucherte Fernwärmeschieber auffallen. Ich fotografiere sie mit meiner Systemkamera und Bogusia auch mit Ihrem billigen Samsung-Handy.

Special: Fotografie

Sony Systemkamera versus Samsung Handy Galaxy A54

Während meine Frau mit ihrem Handy fotografiert, fotografiere ich mit meiner Sony Alpha 6000, meistens mit Festbrennweite 30 mm. Das Objektiv von Sigma hat eine gute Abbildung und Lichtstärke. Die meisten Bilder hier stammen von der Systemkamera, ca. 1/3 vom Handy.

Schieber Magnify
Systemkamera Sony Alpha 6000 mit 30 mm-Festbrennweite
Schieber Magnify
Handy Samsung A54

Nachbearbeitung

Da ich schöne Fotos haben will, muss ich alle Bilder der Sony nachbearbeiten. Dazu nutze ich RawThrerapee 5.9. Die Raw-Bilder haben mehr Dynamikumfang, daher speichere ich wenig in JPEG. Nachteil - ich kann die Fotos nicht sofort weiterverwenden. Mittlerweile hole ich bei der Nachbearbeitung einiges heraus, nachdem ich lange mit der Software geübt habe und mich mit den Grundlagen der Fotografie beschäftigt habe.

Die Fotos des Handys bearbeite ich wesentlich weniger nach. Sie liegen in einem aufbereiteten JPEG-Format vor und sind meistens sofort verwendungsfähig. Ich korrigiere nur Ausschnitt, Ausrichtung und Objektivverzerrung.

Sonnenuntergang Magnify
Sony Raw-Format
Sonnenuntergang Magnify
Nachbearbeitet mit RawTherapee

Farben

Die Raw-Bilder der Systemkamera enthalten mehr Informationen, aber man muss diese dem Format händisch entlocken. In der Regel muss ich bei Fotos im Schatten den Weißabgleich nachsteuern.

Das Samsung-Handy macht meistens alles von alleine richtig. Die Farben sind kräftig, aber das mag ich.

Störungen

Die Systemkamera hat manchmal Flecken auf dem Sensor, die im blauen Himmel sichbar werden und korrigiert werden. Die Flecken kommen von Staub, der beim Objektivwechsel eindringt. Manchmal entferne ich ihn mit einem speziellen Schaber, aber ich kriege sie nie dauerhaft weg. RawThrerapee hat einen gut funktionierenden Fleckenentferner.

Wegen des weiten Winkels des Handy-Objektives wirken manche Aufnahmen verzerrt, besonders große Gebäude. Flecken hat das Handy nie, weil die Foto-Optik im Werk staubfrei verkapselt wurde.

Schärfe

Die Bildschärfe ist grundsätzlich bei den Handy-Fotos algorithmisch erhöht - dadurch wirken sie klar und scharf. Zoomt man in solch ein Foto hinein, wirken die Details schnell unecht, flächig oder merkwürdig kriselig.

Die Raw-Bilder der Systemkamera geben direkt die hohe Detailtreue der besseren Optik wieder. Sie hängt aber von dem Spiel aus Blendenöffnung und Belichtungszeit ab und ist eine Frage des Umganges mit der Kamera - hängt also von mir ab. Für scharfe Bilder verwende ich ein Stativ, eine kleine Blende und die 2s-Auslöseverzögerung. Um den klaren Eindruck wie beim Handy zu erreichen, ist es wichtig bei RawTherapee nicht die Schärfung unter Details zu verwenden, sondern beim Transformieren unter Skalierung das Häkchen bei "Nach Skalierung schärfen" zu setzen.

Allerdings verwende ich in der Nachbearbeitung das Programm ImageResize in der Version 4.2. Diese neue Version, die noch nicht am Markt ist, ist für die Massenverarbeitung von Bildern gut geeignet. Sein Fokus liegt in der Größenänderung und im Nachschärfen.

Ich habe den Programmierer gefragt, ob er speziell für mich diese Version machen kann, die auch in der Lage ist nachzuschärfen. Er erklärte sich sofort dazu bereit und ließ alles stehen und liegen, um das Werk schnellstens zu vollenden. Naja - ich bin selbst der Programmierer.

Preis und Aufwand gegenüber Qualität

In Sachen Knips-und-wech siegt klar das Handy. Man muss bei der Systemkamera schon tüchtig fotografieren und nacharbeiten können, um bessere Ergebnisse als mit dem Handy zu erreichen. Dabei ist das Handy noch nicht einmal ein teures.

Allerding erlaubt die Systemkamera flexibleren Umgang mit dem Motiv. Ich kann das Objektiv wechseln gegen ein Zoomobjektiv und z.B. Tieraufnahmen machen. Ich kann mit einer großen Blende das Buket erhöhen (Unschärfe des Hintergrundes). Der Detailreichtum ist doch besser, was aber erst beim Vergrößern, auf dem Poster oder einem großen Monitor auffällt.

Die Zukunft: Wahrheit gegen Lüge

Die Handys profitieren von der Rechenleistung, dem Internetzugang und den ausgefeilten Algorithmen. Es geht jetzt bereits los mit der Bildverbesserung durch KI. Angenommen, das Handy fotografiert eine Blumenwiese im Sommer. Der Algorithmus erkennt den blauen Himmel und die Blumenwiese und zaubert dir etwas Tolles, denn

  1. das Internet weiß wie eine schöne Blumenwiese aussieht
  2. du möchtest ein Foto mit einer schönen Blumenwiese
  3. das Handy hat Zugang zum Internet, weiß was du willst und es liefert!

Mal ehrlich, wenn die Blumen zur Hälfte vertrocknet und das Gras verdorrt war, das Wetter regnerisch und grau, dann hättest du die Wiese herkömmlich nicht fotografiert. Mit KI allerdings zaubert dir das Handy schönste Urlaubserinnerung. Und genau das willst du ja. Knips-und-wech.

Die dumme Systemkamera liefert dir unbestechliches Rohmaterial und es hängt von deinem Geschick ab, daraus etwas zu machen.

Weiter gehts Richtung der großen Hauptstraße. Wir gehen die Treppe rauf und sehen die schönen Kirchen, die wir zuvor von der Tram aus gesehen hatten. Als erste sehen wir uns die weiß-blaue prachtvolle orthodoxe Kirche an. Es ist die Boris-und-Gleb-Kathedrale. Jetzt im spätnachmittäglichen goldenen Licht wirken die goldenen Türme noch goldener. Es ist gerade eine Messe und wir schleichen uns an. Es sind nicht viele Gläubige in der Kathedrale, vorwiegend alte Frauen. Eine junge Frau fällt mir auf, die der Zeremonie ekstatisch folgt. Als sie später die Kirche verlässt, strahlt sie von religöser Energie dermaßen aufgepumpt, dass du damit einen Kronleuchter betreiben könntest.

Boris-und-Gleb-Kathedrale

Kathedrale Magnify
Kathedrale Magnify
Kathedrale Magnify
Kathedrale Magnify
Kathedrale Magnify

Aber der Kracher ist der Chor! Es ist nicht wie bei uns so eine Art Kirchenkaraoke, sondern der hier ist professionell. Es klingt wunderschön und ist richtig durchkomponiert. Wir lauschen den mehrstimmigen Harmonien und sind begeistert. Die Kathedrale selbst ist schon überirdisch prachtvoll, mit ihrem Gold, den Farben und dem Licht, aber diese Akustik beeindruckt uns. Es ist hier nicht erwünscht während der Messe zu fotografieren, daher nur Außenaufnahmen.

Regeln Magnify
Kathedrale Magnify

Wegen Knips-und-wech stürmen wir zur nächsten Kirche ganz in der Nähe. Es ist die Altorthodoxe Pomorische Kirche der Altgläubigen. Das ist eine ältere Religion, die sich als Ursprung der Orthodoxen sieht. Alles ist hier noch strenger. Aber nach den ganzen Kirchenbesuchen sind wir ja religiös total aufgeladen und euphorisch.

Pictogramme Magnify
Historie Magnify

Am Eingang des Geländes ist eine Tafel mit ausführlichen Erläuterungen in mehreren Sprachen, auch in Deutsch. Der Text ist fehlerfrei und hervorragend formuliert. Während ich lese (ich lese so ein Zeugs immer - ist zwanghaft) schaut sich Bogusia das Innere an. Ich traue mich nach der Lektüre nicht in die Kirche, aber Bogusia berichtet mir. Frauen müssen ein Kopftuch tragen und ihr vorbereitete Kapuze reichte nicht. Von einer älteren Frau bekam sie ganz freundlich ein geeignetes Kopftuch. Dazu kam noch ein schwarzer Wickelrock und sie durfte rein. Drinnen war ein Chorgesang und eine Laienpredigerin hielt die Messe. Das ist so ein Extra dieser Religion - jeder kann Prediger werden.

Weiter gehts Magnify

Ich spiele mit dem Gedanken, mich einer dieser tollen Religionen anzuschließen. Die Pracht, die Chöre... Einen kleinen Ikonenschrein habe ich ja bereits in Vilnius gekauft. Aber nach der Lektüre der Regeln an dieser Kirche wird mir bewusst, dass ich mit meinen kurzen Hosen in diesem Glauben nicht glücklich werde. Es ist ja praktisch alles verboten.

Kirche Magnify
Mariä-Empfängnis-Kirche

Wir marschieren jetzt Richtung Osten, wieder zur Straße des 18. Novembers. Auf dem Weg kommen wir an einem der im Baltikum häufigen Holzhäuser vorbei. Es ist alt und schäbig, aber man kann sich vorstellen, welch ein schöner Bau es einst gewesen sein muss. Wahrscheinlich ist es für Investoren nicht attraktiv, ein altes Holzhaus zu restaurieren. Auf der anderen Seite der Hauptstraße mit der Straßenbahntrasse sehen wir sich die nächste Kirche - die katholische Mariä-Empfängnis-Kirche. Sie ist geschlossen. Eine Kirche der jungfräulichen Empfängnis gewidmet? Keine Pracht des Irdischen kann mich dazu verleiten, über diese kruden theologischen Konstrukte ernsthaft nachzudenken. Bin doch eher protestantisch geprägt.

Kirche Magnify
Lutherische Kirche

Weiter gehts zur schmucklosen Lutherische Kirche. Sie ist zwar geöffnet und wir schauen schnell rein, aber religiöse Gefühle kommen nicht mehr auf. Sie ist in der Rangfolge der 4 Kirchen eher hinten, aber hat trotzdem eine konkurrenzfähige asymmetrische Architektur. Es gibt in Daugavpils noch mehr Kirchen, aber es ist spät und wir fahren mit der Tram die schöne und kurze Strecke zurück ins Stadtzentrum. Nicht weit vom Hotel neben dem Theater gibt es in einem Imbiss leckere Hamburger - genau das richtige jetzt. Dann ruhen wir uns im Hotel bis 21:00 aus und gehen anschließend noch in einer Kellerkneipe einen Weißwein trinken. Danach bummeln wir noch etwas in der städtischen Sommernacht und gehen schlafen.

Am nächsten Morgen kommen wir gegen 9:00 los. Es ist wolkenlos und wir kaufen noch Lebensmittel in Daugavpils ein, bevor es weiter nach Norden in die Natur gehen soll.

Durch Lettgallen, dem östlichen Lettland

Lettische Landschaft
Landschaft Magnify
Landschaft mit Buschwerk, Wiesen, alten Holzhäusern
Kapelle Magnify
Kapelle. Oder wie heißt das?
Lg

Wir fahren heute vom Südosten Lettlands bis zum Nordosten. Die Straßen sind gerade und gut - die lettische Landschaft zieht an uns vorüber - Laubwälder, karge Äcker, Buschland, Wiesen, Postkartenhimmel. Dieser Teil Lettlands, zu dem auch Daugavpils gehört heißt Lettgalen. Er hat einen eigenen Dialekt, wie man mir sagt. Er gehörte irgendwann mal zu etwas, was man Polnisch Livland nannte.

Kirche Magnify
Kleine Holzkirche im Nichts

Die Dörfer sind ärmlich - viele Holzhäuser, die dringend Farbe brauchen. Unterwegs schaue ich nach einer Möglichkeit zum Campen, aber ich finde nix. Diese Gegend nahe der russischen Grenze ist nicht so attraktiv zum Campen. Unterwegs halten wir immer, wenn es etwas zu schauen gibt. Vor Rēzekne sehen wir ein Straßenschild, das die Entfernung nach Moskau angibt - 676 Kilometer. Wir fahren dicht am Reich des Bösen vorüber. Wir sehen eine rosa Holzkirche und eine orthodoxe... wie soll ich es sagen... Kapelle oder so. Hat jemand aus Dankbarkeit für Irgendwas aufgestellt.

Holzkirche Magnify
Orthodoxe Holzkirche in Balvi

Sehr hübsch, mit güldenem Dach. In Balvi halten wir - ich weiß nicht mehr warum - und sehen eine schöne orthodoxe Holzkirche. Das Wetter ist sehr hell und sommerlich geworden. Wir möchten eigentlich einen netten Platz zum Campen finden und gar nicht so viel fahren. So kommen wir um 15:00 in den Bezirk Alūksne zu einem großen See. Seen ziehen mich immer an.

Alūksne

See Magnify
See vom Campingplatz Jaunsetas
Al

Am Alūksne-See im Bezirk Alūksne liegt die Stadt - ratet mal - genau: Alūksne. Die Sehenswürdigkeit hier ist neben dem See die Marienburg. Doch erstmal wollen wir die Frage des Übernachtens lösen. Wir suchen die örtliche Touriinformation auf und bekommen Auskunft über einen Campingplatz. Die Touriinformation ist ein neues Holzhaus und liegt oberhalb eines schönen Parks am See. Doch statt zu bummeln, suchen wir lieber den Campingplatz.

See Magnify
Campingplatz am See von Aluksne, Zelt aufbauen spart 10€

Nach einigem Suchen finden wir ihn am westlichen Ufer in Jaunsetas 2 Kilometer nördlich der kleinen Stadt. Der Campingplatz ist groß, liegt am See und wird gut geführt. Er ist ziemlich leer und wir können uns einen hübschen Platz mit Blick über den See aussuchen. Es gibt hier auch Hütten und ein Hotel mit Restaurant. Der Preis ist 20€, wenn wir im Auto schlafen und 10€, wenn wir im Zelt schlafen!? Ich baue das Zelt auf.

Aber der Tag ist noch jung und wir haben genug im Auto gesessen. Wir gehen schön im See schwimmen, ruhen uns aus und machen die Räder klar. Wir fahren über eine bewaldete Halbinsel mit einem hohen Hügel und einem Friedhof darauf. Es ist alles hübsch und gut ausgebaut und nicht überrannt. Und warm ist es heute auch. Eine Holzbrücke führt zur Festungsinsel. Hier hat man es übertrieben - die Brücke spielt Musik und leuchtet nachts. Die Festung aus der Zeit des Deutschen Ordens ist nicht sehr groß und wir schauen etwas hier und da.

Wir verlassen die Festungsinsel auf einer zweiten Holzbrücke in Richtung der Stadt. Hier erreichen wir den Park, oberhalb dessen sich die Touriinfo befindet. Im Park gibt es u.a. einen kleinen Palast.

See Magnify
Alūksne-See
See Magnify
Alūksne-See mit Nervige-Musik-Brücke
Turm Magnify
Turm der Marienburg
Rad Magnify
Mit dem Rad auf der Insel der Marienburg
Palast Magnify
Das Neue Schloss
See Magnify
Nach Sonnenuntergang
Magnify
Herrlicher Morgen am Aluksne-See auf dem Jaunsetas-Campingplatz - zu empfehlen.

Bevor es dunkel ist kehren wir zurück zum Zeltplatz und fahren wieder über die Nervige-Brücke-Mit-Musik, die jetzt zum Glück die Klappe hält. Vom Land zum Hügel führt ein Stahlseil für irgendeinen Freizeitspaß. Wir fahren zu dem Aussichtsturm auf der Halbinsel, aber der macht vor unserer Nase gerade dicht. So fahren wir weiter zum Zeltplatz und baden noch einmal. Wir haben Hunger und testen das Restaurant des Zeltplatzes in dem großen Blockhaus. Es gibt Fisch aus eigenem Fang. Er ist gut und nicht überteuert. Dann gehen wir im Zelt schlafen. Nachts höre ich irgendwelche Eulen rufen.

Von Alūksne ist es nicht mehr weit zur estnischen Grenze. Wir kommen nach einem herrlichen Camping-Morgen gegen 10:00 los.

Estland

Magnify
Magnify
Eg

Unser Ziel ist der Osten Estlands und die geheimnisvolle Stadt Sillamäe. Aber wir haben ja Zeit und schauen, was die Tage bringen. Ich orientiere mich bei der Suche einer Straße zum Ziel an Gewässern, Wäldern oder anderen natürlichen Besonderheiten. So wollen wir nach Tartu in Estland, um erst einmal eine gute Straßenkarte zu kaufen. Tartu liegt auf dem Weg nach Sillamäe am Peipus-See. Schon steht die grobe Planung.

Estland Magnify
Endlich in Estland
Estland Magnify
Estnische Wildnis
Elche Magnify
Wo sind die Elche bitteschön.
Sümpfe Magnify
Sumpfige Landschaft

Das Wetter ist schön und ich schaue mir die Landschaft an. Sie wirkt jetzt mehr skandinavisch, mit Birken in Mischwäldern und Sümpfen. Schon bald kommt die grüne Grenze. Wir sehen die Elchwarnung und halten tagelang Ausschau - ohne Erfolg. Als wir durch ein Dorf kommen, rennt ein kleines hühnerartiges Vögelchen über die Straße - ein Wachtelkönig! Ich bin mir ziemlich sicher. Elche habe ich früher schon viele gesehen, aber das ist mein erster Wachtelkönig.

Tartu

Tartu Magnify
Alte und neue Häusern in Tartu
Tt

Estland ist Skandinavien ähnlicher als Lettland und Litauen. Die Häuser wirken moderner und reicher. Auf dem Lande aber sind ebenfalls viele schäbige Holzhäuser. Es sind Anzeichen des orthodoxen Glaubens sichtbar und wenn wir anhalten, gibt es mehr Mücken. Ist aber auch ein heißer Tag.

Zentrum Magnify
Stadtzentrum oder so

Wir kommen nach Tartu - einer 100.000-Einwohner-Stadt mit einem modernen Stadtzentrum. Wir halten in der Nähe des Zentrums. Es wird echt heiß jetzt um die Mittagszeit. Im Einkaufszentrum finden wir einen Buchhandel und ich bekomme einen genauen Straßenatlas in 1:100.000. Wir schauen uns die Stadt nicht an - sie scheint eine Mischung aus modernen Bauten und alten z.T. gut gepflegten Holzhäusern.

Peipussee

Peipussee

Essen
Erstmal eine Suppe und danach Kaffee
Ps

Nach Tartu fahren wir an den Peipussee. Er ist ein großes Binnengewässer. Hier leben besonders viele Altgläubige. So nennt man die Gläubigen einer alten Form der orthodoxen Kirche, die bestimmte "moderne" Rituale ablehnen. Viele Leute in den Dörfern entlang des Seeufers fischen oder pflanzen Zwiebeln. Dafür ist die Region bekannt.

Peipussee Magnify
Unser erster Blick auf den See - gewaltig

An der Stelle, wo wir auf den See treffen, ist eine kleine Wildnis und wir können direkt am See parken. Der See ist soo eindrucksvoll. Er ist riesig - das andere Ufer ist 50 Kilometern entfernt und weit außerhalb der Sicht. Dort ist Russland. Des Sees braunes Süßwasser ist warm und plätschert in die Schilfgürtel. Im Schilfgürtel sind viele Reiher an kleinen Sandbänken. Es sind Grau- und Silberreiher. Wir ruhen uns von der Fahrt aus, essen warm und trinken Kaffee. Dann liegen wir am Ufer, bevor es weiter geht.

Stranddünen Magnify
Strand

Wir wollen einen schönen Platz zum wilden Zelten finden und fahren weiter nach Norden. An der Küste ist eine Folge von Langdörfern. Wir finden keinen Platz direkt am See, aber gegen 18:00 einen an der ruhigen Straße durch den Wald am See. Von dort sind es 200 m zum Strand. Es gibt hier richtige Dünen und der Sand ist fein, weiß und wird golden zum Wasser hin. Daher hat das Wasser bestimmt seine Farbe. Man muss weit rausgehen, bis es zum Schwimmen tief genug ist. Wir liegen noch lange am Strand und schauen. Ein Fischadler fängt einen Fisch.

Strand Magnify
Sanddünen

Überhaupt gibt es hier viele fischende Vögel und kleine tote Fischchen am Spülsaum. Am Waldrand wimmelt es von Roten Waldameisen - alle 50 m ein Nest. Auch am Strand patrouillieren sie. Es gibt aber keine Mücken, was vielleicht am Seewind liegt. Der lässt allerdings mit dem hereinbrechenden Abend nach und wir gehen in den Bus zum Schlafen.

Küstenwald Magnify
Küstenwald

Nachts steigt im Wald Nebel auf und ich hoffe auf einen Elch. Kommt aber keiner. Dafür blinkt es im Unterholz - schon wieder Glühwürmchen.

Goldstrand Magnify
Goldenes Licht

Am nächsten Morgen um 7:30 bereiten wir uns zum Frühstück ein leckeres Picknick am See. Tee und Kaffee und Milchkaffee und Obstmüsli. Wir gehen natürlich schwimmen - das Wasser ist wärmer als unsere Ostsee, bestimmt 22° C. Der See ist nämlich nicht sehr tief.

Kloster von Kuremäe

Klostertor Magnify
Tor zum Kloster vom Innenbereich aus
Kirche Magnify
Hauptkirche des Klosters
Wohnungen Magnify
Wohnungen der Nonnen
Dach Magnify
Die Dächer sind liebevoll gestaltet...
Gründach Magnify
...und meistens grün
Km

Weil wir kaum packen müssen, kommen wir früh los. Bogusia möchte sich ein bekanntes russisch-orthodoxes Kloster mit Nonnen ansehen. Das Kloster ist ein richtiges, kleines und gut gepflegtes, von einer Steinmauer umgebenes Dorf aus Holzhäusern, die besonders schön erhalten werden. Die Wohn-, Wirtschafts- und Gotteshäuser sind von einer parkähnlichen Landschaft umgeben, die mit Obstgärten und Bienenkörben zur Ernährung der Einwohnerinnen beiträgt.

Man darf als Tourist durch das Kloster gehen und den Nonnen zusehen. Die Arbeiten an den Häusern und Parkanlagen scheinen aber Handwerkern bzw. Gärtner vorzunehmen. In einem Gotteshaus ist eine Gruppe Frauen - vermutlich Nonnen - fröhlich schwätzend damit beschäftigt Messingschmuck zu putzen, und zu renovieren.

Hier herrscht ein ruhiges Treiben und es sind vereinzelt Touristen unterwegs. Wie bei allen orthodoxen Gotteshäusern ist legere Freizeitkleidung nicht erwünscht und Schilder weisen darauf hin. Statt kurzer Hose, Sandalen und Muskelshirt, trage ich heute extra lange Hosen, dunkle Schuhe und ein dunkles T-Shirt. Nur damit ich die Nonnen in ihrem natürlichen Habitat sehen kann.

Touri
Zarasai
Meine besten Sachen

Habe den Eindruck, ich sei der Einzige, der sich an die Kleiderordnung hält, außer den Nonnen. Vielleicht ist die betont touristische Bekleidung der Besucher das klare Signal an die Nonnen, dass der Besucher nicht beabsichtigt dem Orden beizutreten.

Die Zimmer der Nonnen sehen wir nur von außen und erkennen sie an den gleichförmig gestalteten Fenstern. Wir gehen in keine Häuser hinein. Im Grunde leben die Nonnen hier eine sozialistische Utopie. Als Klammer ihrer Gemeinschaft dient aber weniger die Aufgabe irdischen Besitztums, als vielmehr der Glaube. Entsprechend wird das Auswahlverfahren sein. Nonne wird man freiwillig - Kommunist wurde man selten freiwilling.

Sillamäe

Sillamäe - Stalin-World

Sm

Wir machen uns auf nach Sillamäe. Unterwegs wandern wir in einem bewaldetem Naturschutzgebiet noch um einen kleinen Waldsee, der in einer Schlucht liegt, die eine besondere geologische Formation und charakteristisch für die Landschaft ist.

Rathaus Magnify
Rathaus und Kulturzentrum ganz links

Das Wetter verschlechtert sich etwas - graue Wolken verdichten sich. Ich bin neugierig auf Sillamäe. Es war eines der wenigen Ziele in den baltischen Ländern, die ich unbedingt besuchen wollte. Die Stadt war in der Sowjetunion eine sog. geschlossene Stadt. Solche Städte sind für bestimmte Zwecke - meist militärische - gegründet worden. So etwas Ähnliches, aber nicht geschlossenes, gab es auch in den USA im Zusammenhang mit der Entwicklung der Atombombe.

Prachtpromenade Magnify
Der Genosse Stalin hat uns diesen Blick geschenkt!

Auch das Bild des heutigen Sillamäes hängt mit der Entwicklung einer ersten Atombombe zusammen - der der Sowjetunion. Da in der Sowjetzeit große vaterländische Projekte auch immer eine Gelegenheit waren, den Menschen die Utopie des Kommunismus etwas näherzubringen, haben solche Orte etwas Unwirkliches und Künstliches. Nicht der gute Geschmack von Investoren und Architekten hat sein heutiges Bild geschaffen, sondern Stalins Wille, der Sowjetmacht die Atombombe in die Hände zu geben. So entstanden Bauten der sowjetischen Muster A-1 und U-2.

Radioaktiver Hügel Magnify
Hügel mit chemisch und radioaktiv verseuchtem See darunter.

Wenn man in das Zentrum der 13.000-Einwohner-Stadt gelangt, erblickt man den Prachtboulevard zum Meer hinab, berandet von klassizistischen Bauten der Stalinzeit. Am oberen Ende steht das Rathaus und ein Kulturpalast mit einem Atombunker darunter. Am unteren Ende liegt das Meer mit dem heute grauen Strand. Früher war zur Zeit des Zaren schon ein beliebter Badeort für die russische Oberschicht und die Intellektuellen.

Industrie Magnify
Industrieanlagen im Westen

Später wurde die Region während der Unabhängigkeit Estlands industrialisiert. Ölschiefer wurde abgebaut und Öl produziert. Dann kamen wir Deutschen und machten (mal wieder) allen das Leben zur Hölle.

Wohnzimmer Magnify
Sowjetisches Wohnzimmer im Museum

Zwangsarbeiter mussten die Gruben ausbeuten. Anschließend kamen die Russen, kämpften Opa nieder, zerstörten die Stadt und wollten zunächst die Ölindustrie wieder aufbauen. Im Frühling 1946 jedoch beschloss die sowjetische Regierung den Bau des "Kombinates No. 7" in Sillamäe.

Wohnhäuser Magnify
Arbeiterwohnungen aus der Spätzeit der Sowjetunion

Es sollte eine geschlossene Stadt werden, um ein Zentrum der Atomtechnologien der neuen Zeit zu schaffen. Wissenschaftlern und Arbeitern wurden um das klassizistische Stadtzentrum herum Hochhausviertel gebaut und es existiert ein Datschenviertel. Stalin ließ Strafgefangene für sein Reich schuften. Er behandelte die eigene Bevölkerung nicht besser als Sklaven. Wer es nicht glaubt, sollte eines der vielen Bücher über diese Zeit lesen, z.B. "Archipel Gulag" von Solschenyzin.

Fernseher Magnify
Fernseher mit Explosionsschutz

Der Wohlstand muss hoch gewesen sein, denn Stalin privilegierte seine Technologiesklaven. In dem kleinen Museum kann man russische Alltagsgegenstände und Möbel bewundern. Ein klobiger Fernseher mit winziger Röhre fiel mir auf. Vor der Röhre eine zusätzliche Plexiglasscheibe.

Puppe Magnify
Chucky, die Horrorpuppe von Sillamäe

Sie war ein Schutz gegen die gelegentlich implodierenden Bildröhren sowjetischer Fabrikate. Daneben verbesserte sie das Bild etwas und galt auch als Statussymbol. Auch ein Kinderwagen der 50er oder 60er mit einer gruseligen Puppe bleibt mir im Gedächtnis.

Finnischer Meerbusen Magnify
Boulevard am Finnischen Meerbusen

Von der Prachtstraße mit dem Denkmal und den gewaltigen Parkbänken aus der Sowjetzeit, gehen wir zum Strand hinunter. Der Finnische Meerbusen sieht nicht sehr einladend zum Baden aus. Die chemische und radioaktive Brühe der Sowjetzeit, die noch im Untergrund schlummert, fördert die Badelust ebenfalls nicht. Im Westen blicken wir in einem Kilometer Entfernung einen grünen Hügel. Darunter liegt die sanierte chemische und radioaktive Hinterlassenschaft der Sowjetunion. In der Umgebung Sillamäes gibt es verschiedene Lagerstätten von Ölschiefer und anderem. Heute werden Seltene Erden von einem norwegischen Unternehmen verarbeitet. Die Industrieanlagen liegen im Westen der Stadt, ab dem erwähnten grünen Hügel.

Kino Magnify
Das Kino "Rodina" - Heimat

Wir schlendern in Richtung Westen und trinken einen Kaffee in einer der Buden. Es sind jetzt nicht viele Touristen unterwegs, aber die Stadt ist touristisch. Wir kommen zur Industrieanlage und gehen von dort wieder auf der L. Tolstoi und der Kesk zurück zum Zentrum, wo unser Auto steht. Wir kommen an einem alten Kino vorbei, das noch nicht renoviert wurde, aber noch die alte Pracht zeigt.

Kulturzentrum Magnify
Kulturzentrum mit Atombunker drunter

Die ganze Stadt kommt mir vor wie Stalin-World als Pendant zu Disney-World vor. Aber es leben hier Menschen, die sich für ihre Gegenwart interessieren und wie sie über die Runden kommen. Viele sind sicher die Nachfahren der Russen, die hier zur Schaffung der neuen Weltordnung angesiedelt wurden. So wie in anderen Städten mit vielen Russen - Narva, Daugavpils - ist es sicher im Interesse des Staates Estland, dass diese Bewohner integriert werden und die Zukunft in der EU sehen.

Bänke Magnify
Die sowjetischen Bänke rechts sind irgendwie beängstigend - als wenn sie einen fressen wollten

Die Frage stellt sich immer wieder, warum sollten die alten Gebäude der Stalinzeit erhalten werden? Ich muss oft an die Aussage des Historikers aus dem Pumpenhaus der Festung Daugavpils denken, dass das alles Erinnerungen an die Besatzer sind. Wie umgehen mit diesem Erbe? Wenn es sich lohnt, warum nicht ein Touristenspektakel daraus machen, so wie die Wolfsschanze in Gierłoż bei Kętrzyn, Polen. Ich finde die Polen gehen mit der Geschichte oft sehr vorbildlich um - an alles erinnern und pragmatisch erhalten und nutzen.

Narva

Narva - Graue Grenzstadt

Burgen Magnify
Die Burgen stehen sich bedrohlich gegenüber
Nv

Wir verlassen Sillamäe und fahren 30 Kilometer nach Osten zu unserem nächsten, spannendem Ziel: der Stadt Narva. Gegen 16:30 kommen wir an - es ist immer noch grau, was aber zu dieser grauen Stadt mit den grauen Burgen passt. Narva hat 56.000 Einwohner, die meisten (95 %) russischsprachig. Die Stadt ist in jüngerer Vergangenheit wegen der Nähe und der Spannungen zu Russland im Gespräch gewesen und war öfter im Fernsehen. Sie liegt an dem Fluss Narva gegenüber der russischen Stadt Iwanogrod, mit der sie eine Zwillingsstadt bildet.

Hotel Magnify
Blick aus dem Hotel auf die graue Stadt

Wir steuern erst einmal das Stadtzentrum mit dem Rathaus und der Touristeninformation an und fragen nach einem Hotel. Wir finden eines in 5-fußminütiger Entfernung. Das Hotel sagt uns zu. Es ist ein einstöckig rechteckiger, massiver Bau vielleicht aus der Zarenzeit mit 80 cm Wandstärke. Es ist innen geräumig, mit hohen Decken, etwas sowjetisch plüschig, aber alles angenehm und sauber.

Grenzfluss Magnify
Grenzfluss Narva

Wir ziehen gleich los, die Grenze zu Russland zu sehen. Es ist nur 10 Minuten zu Fuß dorthin und wir stehen hoch über der Narva und überblicken die beiden Burgen der Zwillingsstadt, die sich hier gegenüberstehen, als würden sie sich belauern. Sie sind beide grau, nüchtern, zweckmäßig und recht groß. Auf der Brücke nach Iwanogrod sind Fußgänger mit Rollkoffern in beide Richtungen unterwegs. Die Grenze wurde nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine für Fahrzeuge dichtgemacht. Wir fragen uns, warum so viele Leute die Grenze passieren? Ich nehme an, es sind meistens Verwandtenbesuche. Sicher nutzen die Passanten auch die Gelegenheit zu einem kleinen Handel. So kostet z.B. Meersalz auf der russischen Seite ein Vielfaches.

Tal Magnify
Im Tal der Narva kann man schön bummeln
Flaniermeile Magnify
Das ist bestimmt EU-finanziert, damit die Russen neidisch drauf schauen

Man kann gut im Tal des Grenzflusses zwischen den Burgen spazieren, denn es ist ausgebaut zum Lustwandeln. An der Narva ist ein modernes Restauran (ohne 't') mit Blick auf das Tal mit den Burgen. Wir bestellen uns Essen und ertragen die Fahrstuhlmusik. Zurück im Hotel sehen wir uns Dokus über Estland an. Es wird hier zu viel Wald abgeholzt. Narva wird mit Energie aus Ölschiefer versorgt, der hier überall im Untergrund liegt. Ab 22:00 entlädt sich draußen ein Sommerunwetter.

Kathedrale Magnify
Orthodoxe Wiederauferstehungskathedrale mit Chor!

Am nächsten Morgen nach einer ruhigen Nacht und einem Frühstück im Hotel fahren wir mit unseren Rädern in die Stadt. Es ist noch feucht von dem Unwetter und auch grau, aber das Klima ist angenehm und der Tag wird zunehmend sonnig. Wir radeln in den Stadtteil an der Narva südlich des Stadtzentrums. Dort entdecken wir die orthodoxe Auferstehungskathedrale. Wieder so ein architektonisch gelungener Kuppelbau. Wir haben Glück und es findet gerade ein Gottesdienst statt. Zu diesem singt ein professioneller Chor. Es ist wunderschön anzuhören. Das sorgfältig strukturierte Stück stellt einen Dialog zwischen Chor und Prediger dar. Danach zerstreuen sich die relativ jungen Mitglieder des Chores. Wahrscheinlich treffen sie sich hier regelmäßig und häufig.

Außenseiter Magnify
Einer schert aus...
Toiletten Magnify
Toiletten, Masken, CDs,...

Dicht bei der Kathedrale befindet sich eine Reihe superhässlicher Garagen - typisch für den ganzen Osten. Doch eine dieser Garagen ist ein Kunstwerk und lohnt ein Foto. Hier hat irgendein Typ alles an schrägen Sachen verarbeitet, was er in die Finger gekriegt hat. Einer tanzt immer aus der Reihe. Gut so.

Hermannsfeste Magnify
Hermannsfeste

Doch nun wollen wir uns die Hermannsfeste auf dem Westufer ansehen. Darin befindet sich ein Museum und wir zahlen 30€ Eintritt pro Person. Lohnt nicht wirklich - ich erinnere mich an fast nichts dort. Der Ausblick vom wuchtigen Hermannsturm ist durch kleine Fenster mit schlechtem Glas behindert. Man kann kaum das Fernglas benutzen. Wahrscheinlich wurde das Glas von der russischen Seite gespendet.

Häuser Magnify
Häuser die man nicht im Prospekt sieht

Überhaupt ist Narva nicht gerade der billigste Platz. Alles kommt mir irgendwie teurer vor als in der restlichen EU. Dabei sind die Menschen doch nicht reicher hier?! Ich glaube eher, Arbeit ist knapp und Estland muss einiges tun, um die Menschen bei der Stange zu halten. Die Antennen der Häuser am Grenzübergang sind nach Osten ausgerichtet, nach Iwanogrod. Dort beziehen die Menschen wohl ihre Informationen. Früher gab es hier eine große schwedische Textilfabrik als Arbeitgeber, die Stadt wurde industrialisiert und Menschen aus der Sowjetunion verdrängten die Einheimischen. Nachdem durch den Krieg alles zerstört war, bauten die Sowjets es wieder auf und ließen die Esten nicht wieder rein. Das ist die Situation jetzt. Uns kommen die Menschen hier nicht anders vor als anderswo. Aber wir haben keinen Kontakt zur Bevölkerung. Schade.

Finischer Meerbusen

Durch Estland

Wir verlassen Narva und entscheiden die Hauptstadt Tallin auszulassen. Heute wollen wir richtig Strecke machen und das Ziel sind die Hochmoore Estlands im Nationalpark Soomaa. Wir fahren wieder an Sillamäe vorbei und sehen eine Nutzlandschaft mit Bergbau. Die langweilige Strecke geht zunächst am Finnischen Meerbusen entlang und ich möchte doch gerne mal da rein gesprungen sein.

Sowjetlok Magnify
Tuuuut

Wir machen Halt bei Liimala. Da gibt es eine schöne Ecke mit Hafen, Strand, Aussichtsturm, Restoran und Hotel. Wie immer, nicht überlaufen. Ich gehe schwimmen und sehe einen Alkenvogel - vielleicht ein Tordalk. Das Wasser ist warm, aber nicht so schön klar wie bei uns in der Kieler Förde. Wir kochen uns ein Süppchen und trinken Milchkaffee und Tee - das tägliche Ritual mit der Maschinka, meinem kleinen uralten Benzinkocher.

Wir fahren und fahren. Muss auch mal sein. Wenn wir hier oben Zeit vergeuden, fehlt sie uns am Ende und wir müssen noch durch Lettland und Litauen. So fehlt uns die ganze Ecke um Tallin und die estnischen Inseln. Vielleicht ein anderes Mal. In dem Städtchen Turi pausieren wir an einer alten Dampflok mit Sowjetstern darauf.

Sooma

Die Hochmoore von Sooma

Abends im Sumpf Magnify
Mückiger Sumpf
NS

Vor Pärnu, das bereits am Rigaer Meerbusen liegt, biegen wir bei Turi in Richtung des Nationalparks Sooma ab. Ich möchte mal ein richtiges Moor sehen und viel Natur, nach der grauen Stadt und all dem Nutzland. Hier wird die Landschaft sofort schöner. Ein mäandernder Fluss, sogar mit Steilufer, begleitet uns durch die Wiesen und Gehölze. Es gibt kleinräumige Landwirtschaft und einige Störche.

Grillplatz Magnify
Typischer öffentlicher Grillplatz, Anglerglück

Wir fahren in den Naturpark und ich bin etwas enttäuscht, denn statt mooriger Weiten sehen wir nur eine endlos schnurgerade Sandpiste auf einer Art Damm, 1 bis 2 Meter über dem umgebenden sumpfigen und dichten Wald. Hmmm, wo soll denn das Moor sein? Weil hier ein Nationalpark ist, darf man nicht wild campen. Aber es sind Plätze bezeichnet, wo ein paar Zelte oder Wohnmobile stehen können.

Mückenflüsschen Magnify
Das Flüsschen kommt aus dem Moor

Einen solchen finden wir ca. 100 m von der Piste an einem kleinen Flüßchen in den Wiesenlichtungen. Außer uns ist nur ein Angler da mit seinem kleinen Wohnwagen. Es ist mückig und wir verkrümeln uns nach dem Essen in den Bus, wo ich wie jeden Tag meine Aufzeichnungen mache. Dann wird geschlummert...

Pilz Magnify
Pilz im Urwald

Am nächsten Morgen gehen wir das Problem mit dem verschwundenen Moor an. Ein paar Kilometer von hier ist ein Naturzentrum für Touristen. Dort bekomme ich die entscheidenden Infos. Es gibt hier alles an Großwild - von der Mücke bis zum Elch (Wir sehen nur Mücken). Oft gibt es im Frühjahr großflächige Überschwemmungen und darum haben viele Menschen das Leben hier aufgegeben. Das Naturzentrum steht auf einer kleinen Warft. Ich kapiere bloß nicht, woher das viele Wasser kommen soll. Wir bekommen eine Karte, auf der Wege ins Hochmoor eingezeichnet sind und diese sind nicht weit von hier.

Urwald Magnify
Urwald um das Hochmoor

Wir finden an einer der Pisten durch den Wald den Weg, parken und packen unsere Sachen fürs Moor. Mückenkampfstoff, Fernglas, Wasser, Fotoausrüstung. Es geht auf einem schmalen Pfad in den sumpfigen Wald. Manchmal führt der Weg über kleine Brücken und Stege, wenn der Sumpf zu heftig wird. Nach ein paar hundert Meter dichten Urwaldes wird dieser lichter. Es scheint mir, dass das Land ansteigt. Merkwürdig. Moor? Das klingt doch nach Niederung und liegt bei uns immer unten! Wir überwinden bei einer leichten Steigung vielleicht 5 Meter Höhenunterschied und jetzt wird mir alles klar!

Hochmoor Magnify
Hochmoor mit umgebendem Kieferngürtel
Stege Magnify
Holzwege über das Moor mit Flechtdraht gegen Ausrutschen bei Nässe

Vor uns breitet sich das Hochmoor aus. Es liegt über dem Wald - daher kommt also der Name "Hochmoor". Rings um die einige Quadratkilometer umfassende Ebene liegt dichter Wald auf niedrigerem Niveau. Die Kiefern, die hier wachsen, werden spärlicher und kleiner, je weiter man ins Moor kommt. Es ist der Nährstoffmangel des Torfbodens, der sie kümmern lässt. Das Hochmoor ist ein meterdicker Teppich, der das Wasser behält. Auf der Ebene gibt es tiefe, dunkle Tümpel. Erst zur Schneeschmelze, wenn das Moor die Wassermengen nicht mehr aufnehmen kann, fließt es in die Täler zu den Seiten ab und erzeugt dort die Überschwemmungen. Jetzt ist mir klar, warum die Wälder im Wasser stehen und die Pisten auf Dämmen gebaut sind.

Tümpel Magnify
Tümpel mit schwarzem Wasser

Das Hochmoor wäre wohl kaum passierbar oder die Menschen würden das Biotop zertrampeln, daher hat man kilometerlange Bretterwege durchs Hochmoor gebaut. An den Tümpeln sind sogar Badestellen eingerichtet. Wir gehen bequem durchs Moor und ich freue mich an jedem Pflänzchen und jeder Libelle hier. Es wird langsam wärmer, aber nicht richtig heiß. Neben den Torfmoosen wächst Besenheide, Rauschbeere, Moosbeere und Sonnentau. Es ist keine artenreiche Vegetation, sondern eine für Spezialisten. Der Sonnentau ist eine winzige rote Pflanze mit Härchen, an denen ein klebriger Tropfen hängt an dem Insekte kleben bleiben und von der Pflanze verdaut werden. Damit beschafft der Sonnentau sich Stickstoff.

Torfmoos und Sonnentau
Bretterweg durchs Hochmoor
Hier hatte ich noch den Polfilter
Rundblättriger Sonnentau
Rundblättriger Sonnentau
Mooreidechse
Tauchen Magnify
Ich versuche im tiefen Tümpel den Polfilter wiederzufinden

Ich fotografiere viel und wir genießen die Wärme. An manchen Stellen sind Bänke auf dem Bretterweg, besonders bei den Tümpeln. Gerne nutze ich den Polfilter wegen der spiegelnden Wasserflächen. Als ich ihn abnehme, denke ich noch - vooorsicht, dass er nicht ins Moor fällt! Da ist es auch schon geschehen. Das Ding ist mir noch nie runtergefallen und jetzt ausgerechnet hier. Es fällt in den schwarzen Tümpel und versinkt. Doch so schnell gebe ich nicht auf. Klamotten runter und ab ins Wasser. Ich tauche. Und tauche. Und tauche - es ist 2 m tief hier. Ich taste etwas in der Finsternis herum, aber es gibt hier gar keinen festen Grund - der Polfilter bleibt verschwunden.

Rigaer Bucht, Rannakodu bei Kabli

Rigaer Bucht Magnify
Rigaer Bucht
Rk

Wir besuchen zwei dieser Bretterwege im Hochmoor bei Riisa und fahren dann weiter aus dem Nationalpark Sooma heraus über Pärnu und an der E67 entlang der Rigaer Bucht. Von der E67 fahren wir eine Nebenstrecke direkt an der Bucht durch Kiefernwälder und an Küstenorten. In einem davon kurz vor Kabli, finden wir den Campingplatz Rannakodu und beschließen am Meer zu zelten. Die Nacht kostet 22€, wenn wir in unserem "Camper" schlafen und nur 17€, wenn wir im Zelt schlafen !?

Rigaer Bucht Magnify
Seichte, ruhige Küste

Der Platz besteht aus gemähten Wiesen zwischen den Kiefern, hat einen schönen Blick aufs Meer und alle möglichen Einrichtungen. Es stehen immer deutlich mehr Wohnmobile als Autos mit Zelten auf den Plätzen, so auch hier. Es ist aber viel Platz frei. Wir bauen das Zelt auf und gammeln. Der Platz hat eine weite freie Wiese direkt am Ufer, wo man schön abhängen kann.

Wattwanderung Magnify
Wanderung durchs seichte Meer

Am nächsten Tag regnet es frühmorgens und wir beschließen einen faulen Tag zu machen. Vormittags wird es wieder trocken und wir bummeln an der Küste durchs seichte Wasser. An der Küste wechseln Schilf, Strand, Wiesen und Findlinge. Das Wasser ist warm und seicht und man muss weit gehen bis es tief wird. Es gibt kleine Sandbänke des Windwatts. Der Boden ist aber schön sandig. So machen wir eine kleine Wanderung nach Süden, 40 m parallel der Küste. Unterwegs sehen wir eine Ringelnatter, die im windstillen Meerwasser jagt. Sie hält das Köpfchen 3 bis 5 cm aus dem Wasser und ist zu schnell für mich, um gefangen zu werden. Bald kommt ein öffentlicher Badestrand mit ein paar entsprechenden Objekten - Umkleiden, Aussichtsturm usw. Und es steht da ein riesiges, trichterförmiges Netz gespannt an Stangen, mit Bäumen und Wegen darin. Es muss eine Vogelfangeinrichtung sein. Vermutlich werden hier Zugvögel gezählt.

Fauler Tag
Fauler Tag
Sonnenflecken Magnify
Sonnenflecken, mit dem Handy durchs Fernglas fotografiert

Wir gehen durch den Kiefernwald zum Zeltplatz zurück durch einen Naturlehrpfad. Mittlerweile ist das Wetter schön geworden und wir verbringen die meiste Zeit auf unseren kleinen Klappliegen mit Lesen. Ich habe endlich mein Buch "Polen verstehen" durch und lese einen dicken Schinken über die europäischen Revolutionen der 1840er Jahre.

So vertrödeln wir den Tag entspannt. Das Benzin für den Kocher wird knapp - könnte aber noch gerade reichen. Zum Sonnenuntergang um 20:53 ist der Platz fast leer. Die meisten Wohnmobile bleiben nicht lange. Wir bleiben auch noch den nächsten Tag und verbringen ihn mit Faulenzen und Lesen. Erst nach 3 Übernachtungen fahren wir weiter.

Riga

Rigaer Bucht Magnify
Goldener Strand an der Rigaer Bucht
Rb

Auf dem Weg nach Riga auf der E67 halten wir nach der Grenze zu Lettland, um am Meer zu pausieren. Der Strand ist golden und man kann baden. Zurück auf dem recht belegten Parkplatz kommt gerade ein alter deutscher Feuerwehr-Lkw und hält mitten auf dem engen Platz. Er ist zum Wohnen umgerüstet. Der Fahrer scheint unsicher. Er steigt aus und spricht mich an. Es ist ein älterer Herr. Er fragt mich, ob er auf dem richtigen Weg nach Warschau sei? Merkwürdig. Ich bejahe, denn die E67 führt ja nach Süden und kann nicht ganz verkehrt sein. Ich frage ihn, was sein Navi sagt.

Riga Magnify
Riga

Er erklärt mir, dass er damit nicht umgehen könne. Er habe seinen Begleiter verloren, aber ein netter Lette habe ihm das Navi eingestellt. Er könne aber besser mit Karten umgehen, habe aber nur eine recht grobe Europakarte dabei. Ich antworte ihm, er könne hier weiterfahren, solle sich aber besser unterwegs nochmal erkundigen. Dann erwähne ich noch, dass ich dieses Jahr in Warschau gewesen wäre und möchte ihm Tipps geben. Er ist aber nicht daran interessiert, da er nur nach Hause wolle. Über Warschau. Hmm. Na egal - da scheint eine Geschichte hinter zustecken.

Riga Magnify
Riga

Wahrscheinlich ist er als Reisekamerad schwer erträglich und sein Begleiter ist abgehauen. Ich kann ihm nicht helfen. Er ist ja nicht in Not. Hoffentlich kommt er heil in NRW an. Das sind doch mind. 1500 Kilometer mit seinen Umwegen. Ich nehme mir vor, im Alter nett zu meinen Mitmenschen zu sein. Und lieber die Klappe zu halten und das Jetzt zu genießen. Ob mir das gelingen wird?


Hängebrücke Magnify
Hängebrücke über die Düna
Lokal Magnify
Essen im hippen Lokal
Rg

Als wir in der lettischen Hauptstadt Riga ankommen, suchen wir uns einen Parkplatz auf dem westlichen Ufer der Düna. Die Düna ist hier ein breiter Strom, viel breiter als in Daugavpils, wo wir sie bereits kennenlernten. Es ist ein schöner, warmer Augusttag, fast schon heiß. Wir stehen an einem Kanal an der Technischen Universität Rigas. Alles ist hier modern und groß. Schwitzend hole ich die Fahrräder vom Dach. Wir fahren über eine große etwas marode Hängebrücke über die Düna zum historischen Stadtkern.

Riga Magnify
Geburtskathedrale

Zunächst gehts durch die Altstadt - mit unseren Rädern mit ihren fetten Reifen geht das echt gut - bekommen Hunger und finden etwas abseits vom Rummel ein Szenelokal. Viele hippe junge Leute hier, die wohl in der Altstadt leben - auch junge Familien. Das Essen ist gut. Noch Kaffee und Milchkaffee und weiter geht es. Man merkt hier und auch anderswo, dass es in den baltischen Ländern eine moderne, dynamische Kultur gibt. Das äußert sich in Kunst und schicken Cafés. Beides weder protzig noch langweilig. Die jungen Menschen wirken entspannt und selbstbewusst.

GoogleMaps
Wo ist DAS Gebäude?
Stalinpalast Magnify
Stalins Hinterlassenschaft

Wir haben es auf dieser Reise ja mit den Kirchen mit den goldenen Dächern. Auch hier sehen wir eine echt großartige. Es ist die Geburtskathedrale. Sie liegt in Grünanlagen eingebettet. Wir fahren kreuz- und quer durch die Altstadt, durch enge Gassen und über Plätze und durch die Passantenmengen. Wir haben noch ein wichtiges Ziel und ich bemühe Google-Maps, um es zu finden. Wir fahren am Bahnhof vorbei und den alten Märkten und finden es schließlich.

Den Stalin-Palast Rigas. Die Russen haben ihre Diaspora mit kleineren Kopien der Moskauer-Prunkbauten wie der Lomonossow-Universität beglückt. Auch hier in Riga gibt es ein solches Bauwerk im Zuckerbäckerstil. Es sieht ähnlich aus wie der Kulturpalast in Warschau, den wir uns im Frühjahr angesehen hatten. Nach dem Hauptbahnhof, einer Unterführung und den alten Markthallen finden wir das Gebäude. Wir halten uns aber nicht lange auf.

Café Magnify
Café an der großen Brücke

Wir fahren am Ufer der Düna wieder zur Hängebrücke, dann darüber und auf der anderen Seite zu einem gemütlichen Café direkt an der Hauptstraße zur Brücke. Es gibt hier viel Gebäck und Kaffee. Schließlich fahren wir zum Auto, laden die Räder auf und reihen uns gegen 17:00 in den stadtauswärts führenden Feierabendstau.

Regen
Regenfahrt
Gu

Wir wollen es heute noch bis Windau schaffen, das sind auf der E20 fast 200 Kilometer. Es beginnt stark zu regnen. Wir fahren an Jurmala vorbei, einer bekannten lettischen Urlaubsgegend. Ca. 50 Kilometer vor dem Ziel tut mir der Hintern weh und ich mag nicht mehr fahren. Wir fahren rechts ab in einen Waldweg, der zu dem See Gulbju führt. Dort finden wir einen Platz zum Schlafen. Es ist grau, regnet aber nicht mehr. Mücken sind unterwegs. Egal, es ist 21:00 und wir schlafen im Auto.

Am nächsten Morgen ist es kühler geworden, aber wieder sonnig mit ziehenden Wolken. Als wir losfahren und ich das Auto rangiere, um umzudrehen, bleibe ich mit der Heckstoßstange an einem Baumstumpf hängen. Stoßstange und Traverse etwas krumm. Hm - Verluste sind immer möglich - solange es nur Material ist, kein wirkliches Problem. Eigentlich waren die Verluste auf dieser Reise gering: Polfilter, Hecktraverse, Fahrradlack. Die Fahrräder haben einige Schrammen vom Dachtransport bekommen, bis ich die Lösung mit den Bändseln fand, die ich in Kaunas im Baumarkt kaufte.

Ventspils (Windau)

Ordensburg Magnify
Ordensburg mit schattigem Café am Kai
Vp

Wir wollen uns Windau ansehen. Es ist eine mittlere Stadt an der offenen Ostsee gegenüber vom schwedischen Gotland. Der Hafen ist relativ groß, industriell und geschäftig. Der Fluss Venta (Windau) ist hier kurz vor seiner Mündung recht breit und für die Ostseeschifffahrt geeignet. Die Stadt wird vom Fluss geteilt und wir fahren über die Brücke zur Altstadt.

Industriehafen Magnify
Industriehafen nach Nordosten

Wie alle Städte im Baltikum hat auch Windau einen ansehnlichen schnuckeligen Stadtkern und eine Peripherie mit Shopping Centern, sozialistischen Hochhäusern und Industrie. Wir parken am Passagierterminal des Hafens an der Touristeninformation. Das Wetter ist schön sonnig mit strahlend blauem Himmel, allerdings weht ein scharfer Wind vom Meer.

Industriehafen Magnify
Industriehafen nach Westen

Diese Stadt gefällt mir, denn gegenüber des Kais der Altstadt liegt der Industriehafen für Massengüterumschlag. Ich erkenne Terminals für Kohle, Getreide und Öl. Der stadtseitige Südkai ist breit und lang und zum Flanieren ausgebaut. Nach Westen sehe ich große Dünen, die die Sicht aufs Meer versperren. Wir bummeln den Kai entlang und schauen uns u.a. die Kunst-Kühe an. Überall in der Stadt sind witzige Variationen von lebensgroßen Kuh-Skulpturen verstreut.

Straßenbild Magnify
Straßenbild

Zurück gehen wir durch die Straßen der Altstadt. Die meisten sind gut erhaltene, gepflegte, einstöckige Holz- oder Ziegelbauten. Hier leben jedenfalls Menschen und es sieht einladend aus im hellen Sonnenschein. In den windgeschützten Gassen wird es auch schön warm.

Schattig Magnify
Blick aufs Hafentreiben

Wieder am Kai setzen wir uns vor die Ordensburg und bestellen Essen. Für 6 € gibt es das Ventspils-Gedeck mit einer Pilzsuppe vorweg und einem superleckeren Sprottenbrötchen. Eigentlich gehört auch noch ein Schnaps dazu, aber dafür ist der Tag noch zu jung und ich muss noch fahren. Danach trinken wir Kaffee unter den schattigen alten Bäumen. Dabei schaue ich dem Ladevorgang eines Getreidefrachters auf der anderen Seite zu. Ein Ingenieur nimmt Getreideproben, dann werden die Luken geschalkt.

Bogusia macht noch ein Bündel Postkarten klar und bereits gegen 15:00 fahren wir weiter.

Steilküste bei Jurkalne

Steilküste Magnify
Steilküste nach Norden
Jk

Wir fahren an der Ostseeküste auf der P111 südwärts. Wir wollen uns einen schönen, wilden Platz an der Küste suchen. Aber das ist gar nicht so leicht. Wozu sollte jemand einen fahrbaren Weg in die Wildnis bauen? Die meisten Wege sind privat. Aber schließlich finden wir doch einen, der durch den Kiefernwald holpert und tatsächlich erst an der Steilküste endet - perfekt.

Steilküste Magnify
Steilküste nach Süden

Ich parke nicht zu dicht an der Steilküste, denn wer weiß, was die hält. Wir stehen ca. 25 m über dem rauschenden Meer, mit einem herrlichen Blick. Der Boden ist grasbewachsen und Kiefernwald wird lichter so dicht an der Steilkante. Das Meer ist rau und der Wind steht auf der Küste. Ich lege mich auf einer Decke an die Kante, wo es fast windstill ist und schaue aufs Meer.

Steilküste Magnify
Steil aber machbar

Natürlich wollen wir auch baden gehen. Der Abstieg ist nicht einfach. Aber es liegen Baumstämme am Abhang, auf denen man klettern kann. So gelange ich an den Naturstrand. Vereinzelt kommen Wanderer vorbei. Ich habe Respekt vor möglichen Unterströmungen und will lieber nicht so weit in die Brandung hinausschwimmen. Es herrscht eine starke Querströmung mit locker 2 m/s. Aber der Grund ist schön sandig und das Wasser ist warm.

Schauerwetter
Schauerwetter

Wieder zurück beim Bus bauen wir auf. Die Wolken werden dichter und es gibt Schauerwetter. Morgen soll es richtig regnen. Vor der Reise habe ich eine Powerbank gekauft, mit der wir ein paar Mal das Handy laden können. So bleiben wir auf dem Laufenden, was vielleicht aber gar nicht so gut ist in diesen Krisenzeiten. Ich decke eine blaue Plastikplane über die Fahrräder auf dem Dach, damit der Regen nicht aufs Dach trommelt. Das Vordach schüttelt sich zu stark im Wind und ich baue es wieder ab.

Goldtopf Magnify
Da vorne rechts irgendwo muss der verdammte Goldtopf sein!

Nachts weht es und der Bus wackelt manchmal. Gegen 4:00 morgens beginnt es zu regnen. Der Wind nimmt aber ab und gegen 8:30 baue ich das Vordach wieder auf. Ich koche Kaffee. Der Seeadler zieht in unserer Höhe über dem Strand entlang und sucht sein Frühstück. Es ist grau und kalt und manchmal sprüht es aus den Wolken. Bogusia bleibt eingekuschelt im Auto. Im Laufe des Vormittags wird es langsam besser und die Sonne kommt kurz raus.

Auto Magnify
Das Auto steht 8 Meter von der Kante

Es wird ein fauler Tag hier über dem Meer. Ich beobachte mit dem Fernglas Schellenten, die den ganzen Tag über vor der Brandungszone fischen. Sonst gibt es wenige Vögel. Der Wind dreht auf Süd und wir sind besser geschützt. Im Laufe des Tages wird es noch ca. 20° C warm. Wir baden wieder.

Lagerfeuer Magnify
Jetzt auch noch ein Lagerfeuer

Als es Abend wird, sammelt Bogusia herumliegendes Holz und wir machen uns ein Feuer. Das wärmt so schön, wenn man in den kleinen Liegen davor sitzt. Wir brauchen mehr Holz. Die Kiefern haben in Bodennähe kaum noch Äste, aber ich erfinde eine Methode: An eine lange Leine binde ich einen Hammer und werfe ihn über die trockenen Äste in der Höhe. Dann ziehe ich kräftig, bis sie brechen. So können wir das Feuer bis nach Sonnenuntergang nähren.

Morgen geht bereits uns Fähre nach Kiel. Sagt man so. Eigentlich schwimmt sie nach Kiel. Egal - dieser Tag endete so schön, wie man es sich als Urlaubsabschluss nur wünschen kann. Aber der nächste Tag ist auch lang und setzt wieder noch einen obendrauf.

Liebau (Liepāja)

Szenecafé Magnify
Szenecafé
Lp

Gegen 9:00 kommen fahren wir los und holpern langsam durch den Wald. Nach kurzer Fahrt kommen wir in der Hafenstadt Liebau an und suchen uns ein Lokal, um erst einmal zu frühstücken. Die Stadt hat einen Mix aus alten Häusern und modernen. Viele der alten Häuser haben moderne Architekturelemente bekommen. Das sieht gut und lebendig aus. Wir landen in einem der Szenelokale, die von jungen Leuten betrieben werden.

Fischtrawler Magnify
Fischtrawler

Wir halten uns nicht sehr lange auf, da wir heute noch auf die Kurische Nehrung wollen, bevor die Fähre nachts abfährt. Aber ein Stündchen schlendern wir doch die Promenade entlang des Kanals, der den Liepāja-See mit der Ostsee verbindet. Eine Fischtrawlerflotte aus 5 gleichen Trawlern liegt im Hafen neben einem alten hölzernen Minensuchboot. Das Wetter bessert sich ständig und es ist wieder sonnig und warm.

Abschied

Strand Magnify
Letzter Tag am Strand
KN

Zum Abschluss unserer Reise wollen wir noch einmal die Kurische Nehrung besuchen. Gegen Mittag fahren wir von Liebau über die Grenze zu Lettland nach Klaipeda. Der Weg an der Küste ist bewaldet und schön zu fahren. Nun kennen wir die Gegend um Klaipeda schon - passieren Karklė, wo wir das erste mal übernachteten und fahren um Klaipeda herum zu einem Wohngebiet 2 Kilometer vom Fährterminal der Seaways Ferries. Hier kaufen wir Lebensmittel ein für den Tag und die Überfahrt. Ich bevorrate mich mit verschiedenen Sorten Kwas.

Düne Magnify
Düne mit feinem weißem Quietschesand

Der Tag ist wieder sonnig und warm geworden. Wir laden die Fahrräder vom Dach, packen die Rucksäcke und fahren durch die sozialistischen Großbauten der Vorstadt zur Fähre, die zur Kurischen Nehrung übersetzt. Wir fahren den bekannten Weg zu dem herrlichen weißen Strand und verbringen dort den Tag. Es gibt schöne Wellen und ich surfe mit dem Körper mit den Wellen. Dann wieder am Strand aufheizen und bald geht es wieder hinein in die Wellen.

Düne Magnify
Haach, hier könnte ich auch ne Woche verbringen

Als der Abend sich nähert, fahren wir zurück, diesmal mit der anderen Fähre, für die das Rückfahrtticket ebenfalls gültig ist. Im Stadtzentrum an der Danė liegt ein alter Kümo von 1906, auf dem wir uns in der wolkenlosen Abendstimmung noch Limo und Kaffee gönnen. Wir fahren wieder zum Auto, nachdem wir eine Weile in den Hochhäusern suchen müssen und treffen 21:45 am Fährterminal ein.

Pillau Magnify
Blick die Nehrung entlang nach Pillau

Gegen 00:00 sind wir endlich in unserer Kabine. Dieses mal haben wir eine komfortablere Außenkabine und nur Frühstück gebucht. Alles hat geklappt! Auf der Rückfahrt herrscht stärkerer Wind und es ist kälter. Aber dafür haben wir diesmal daran gedacht, unsere kleinen Klappliegen aus dem Auto mitzunehmen. Während der Überfahrt sind die Niedergänge zu den Fahrzeugdecks geschlossen.

Seefahrt Magnify
Offshore Windparks Baltic 1 und Baltic 2

Am Morgen sehe ich vor Rügen die großen Windparks Baltic 1 und Baltic 2. Sie werden von EnBW betriebenen - damit habe ich beruflich zu tun. Doch noch sind wir auf der Reise und ich laufe wie ein kleiner Junge ständig auf dem Deck herum und halte mit dem Fernglas nach allem Ausschau, was da schwimmt und fliegt. Wir reflektieren das Erlebte dieser Reise und freuen uns auch auf zu Hause.

Westliche Ostsee Magnify
"Westliche Ostsee

Gegen 20:00 kommen wir in Kiel an, wo es bereits dunkelt. Unten seht ihr den Leuchtturm Kiel. Er hat im großen Herbststurm 2023 strukturelle Schäden erfahren und kann nicht mehr als Lotsenstation genutzt werden.

Die Reise war ein großartiger Erfolg und hat fast alle Wünsche erfüllt oder übererfüllt. Sie war vollgestopft mit Eindrücken und kleinen Erlebnissen. Ich könnte mir vorstellen, wieder einmal in die baltischen Länder zu reisen. Ich würde gerne mehr Kontakt zur Bevölkerung haben, um mehr über Kultur und Geschichte zu erfahren. Der Tourist in seiner Blase hat es da schwer.